Die mutige Prinzessin




eine Geschichte von Saron

Eines schönen Morgens kam der König wieder einmal zu seiner Tochter, der Prinzessin, und sagte: „Meine Liebe, du weißt ja, als König habe ich immer viel zu tun; das Reich will regiert werden und alles wird immer teurer. Ich muss ins Nachbarland fahren, etliche Geschäfte erledigen und mit anderen Königen beratschlagen. Sei nicht traurig, in ein paar Wochen bin ich wieder zurück.“ Und dann reiste er fort.

Am Abend kam ihre Mutter und sprach: „Meine Liebe, du weißt ja, ich bin Königin und habe ganz wichtige Aufgaben. In wenigen Tagen werde ich in einem fernen Land, in dem viele Kinder nicht Lesen oder Schreiben können, eine Schule eröffnen. Ist das nicht toll? In einigen Wochen bin ich wieder zurück. Sei schön brav und gehorche der Dienerschaft.“

Traurig hörte die Prinzessin zu, denn sie mochte gar nicht gerne alleine sein.
Und so saß sie, wie schon so oft, mit ihrer Spindel tagelang vor dem Schloss und träumte, spielte Ball mit dem Wollknäuel, oder ließ am See die Spindel über das Wasser fahren, wie ein Schiff, das in ferne Länder segelt. Und als sie ihm nachsah, bemerkte sie auf der anderen Seite des Sees ein paar fremde Gestalten . Sie erschrak. Waren das Feinde? Oder Räuber? Sollte sie lieber ins Schloss zurück laufen?
Sechs Personen in ärmlicher Kleidung kamen um den See herum langsam näher. Ein Mann, eine Frau und vier Kinder, das älteste wohl so alt wie sie selbst. Wie angewurzelt blieben sie stehen, als sie die Prinzessin in ihrem vornehmen Kleid und der prächtigen Krone bemerkten. Vor Ehrerbietung fielen sie auf ihre Knie, doch die Prinzessin bat sie aufzustehen und fragte: „Wer seid ihr und was macht ihr hier bei uns?“ - „Verzeiht unser Eindringen, werte Prinzessin. Wir kommen aus dem Land hinter dem Wald. Räuber haben uns überfallen, bestohlen und unsere Häuser niedergebrannt. Bitte habt Mitleid mit uns, wir sind hungrig und bedürfen eines Platze zum Schlafen für die Nacht!“, bat die Frau. „Kommt mit ins Schloss, da gibt es etwas zum Essen und ein Zimmer finden wir sicher auch.“, erwiderte die Prinzessin freundlich.
Sogleich machten sich alle auf den Weg zum Schloss. Doch als sie schon fast bei dem Tor angekommen waren, wurde dieses plötzlich geschlossen und der Wächter rief mit lauter Stimme: „Halt, die Prinzessin darf hereinkommen, aber ihr anderen bleibt draußen. Für hergelaufenes Gesindel ist hier kein Platz. Der König hat befohlen, während seiner Abwesenheit keine Fremden einzulassen. Und die Königin will bestimmt auch nicht, dass ihre Tochter mit so schmutzigen Kindern spielt. Also Prinzessin, kommt herein und ihr anderen geht weiter!“

Die Prinzessin wusste nicht, was sie sagen sollte, erst wurde sie rot vor Zorn, dann blass vor Schreck, aber als sie die Tränen in den Augen der Kinder sah und die Verzweiflung der Eltern, kam ihr Mut zurück und sie rief mit lauter Stimme: „Wächter höre mir gut zu! Wenn der König und die Königin fort sind, habe ich hier zu sagen, denn es ist auch mein Schloss.
Und merke dir: Menschen in Not sind kein Gesindel, man muss ihnen helfen!
Also im Namen meiner Eltern, öffne das Tor und lass uns alle herein, sonst bleibe ich hier draußen, selbst wenn die Nacht kommt. Was würde mein Vater wohl dazu sagen?“

Der Wächter wusste nicht gleich, was er machen sollte, hatte aber Angst, dass der König mit ihm schimpfen würde, wenn er zurückkäme. Und so öffnete er schließlich das Tor und die mutige Prinzessin ging mit den armen Leuten ins Schloss, wo sie sofort für eine warme Suppe und etwas kerniges Brot sorgte.
Ein Bad wurde hergerichtet und natürlich fanden sich zwei Zimmer und etwas frische Kleidung für die Familie. „Hat nicht unser Schloss über sechzig Zimmer?“, fragte die Prinzessin die Mägde, die argwöhnisch dreinblickten, „Da kann man doch wohl zwei abgeben!“ Und sie ordnete an, dass alle Dienstboten die Familie nicht mehr „Fremde“ nannten, sondern „Gäste“.
Und sie erlaubte ihren Gästen, auch weiterhin im Schloss zu wohnen.
Als die Eltern eines Tages von ihren Reisen zurückkamen, lobte der Vater seine kluge Tochter und ihre Mutter sagte: „Mein liebes Kind, ich bin sehr stolz auf dich. Du hast ein mitleidiges Herz und hilfst anderen Menschen. Das freut mich sehr!“. Ihr Vater, der König, fand für den Mann und die Frau Arbeit im Schloss und die Prinzessin war froh, denn sie hatte jetzt Spielgefährten.

©P.Eitner, Bild: Hanna Pauli (1864-1940) und KI