Auf Schatzsuche

In einem Wald, am Rande einer großen Lichtung, lebte eine junge Hasenfamilie. Jeden Morgen zog der Hasenvater hinaus in Wald und Wiesen, um Vorrat für sich und die Familie zu beschaffen. Seine Frau aber blieb zu Hause bei ihrem Hasenkind, tagein, tagaus.

Beim Aufräumen fand die Hasenmutter ein altes Buch. Es musste wirklich sehr alt sein, denn die Seiten waren schon vergilbt, die Buchstaben aber noch klar erkennbar. Sie setzte sich in den großen Lehnstuhl am Fenster und begann zu lesen. Von einem großen Schatz war die Rede, bisher konnte keiner ihrer Vorfahren diesen Schatz finden, weil er so gut versteckt war. Doch eines Tages, hieß es, würde jemand aus der Hasenfamilie den Schatz finden, der besondere Eigenschaften besitzt.

Als am Abend der Hasenmann nach Hause kam, schlief das Kind schon, seine Frau wartete am gedeckten Tisch auf ihn und wollte ihm sofort von dem Buch berichten. Doch der Hasenmann wollte zunächst in Ruhe seinen Möhreneintopf genießen, dann las er seine Zeitung „Der Wald heute“, erzählte seiner Frau, die gerade in der Küche abwusch, wie anstrengend sein Arbeitstag gewesen sei und schlief schließlich auf dem Sofa ein. Liebevoll deckte seine Frau ihn zu. Sie war froh, ihren Mann zu haben, der so gut für sie und das Kind sorgte.

Die Jahre vergingen, das Hasenkind wuchs heran, der Hasenvater versorgte seine Familie, die Hasenmutter war zu Hause und wartete, daß das Kind aus der Baumschule kam, wartete, daß der Mann nach Hause kam, wartete, daß der Wind die Wäsche trocken blies, wartete, daß das Essen fertigkochte, wartete tagein, tagaus.

Eines Morgens, das Kind und der Mann waren aus dem Haus gegangen, zog ein Sturm auf. Die Hasenmutter schaute besorgt hinaus, immer lauter ächzten die Bäume, rüttelte der Wind an der Tür, blies durch die Fensterritzen herein. Die Hasenmutter griff zum Wäschekorb. In aller Frühe hatte sie die Betten abgezogen und die Bettwäsche gewaschen, der Wind würde sie schnell trocknen auf der Leine. Doch aus dem Wind war ein Sturm geworden, die Wäsche könnte zerreisen! Die Hasenmutter zog sich eine Jacke über und trat vor die Tür, da kam, einer Ozeanwelle gleich, eine große Sturmböe, erfasste die Hasenmutter und wirbelte sie durch die Luft. Alles ging ganz schnell, es war wie ein Traum, sie ließ den Wäschekorb fallen und flog durch die Luft, ja, sie war in der Luft!

Schaut nur, sie öffnet die Augen!“ Sechs neugierige Augenpaare blickten auf die Hasenmutter. Langsam richtete sie sich auf, wo war sie?

Du kamst mit dem Wind, er hat dich zu uns gebracht. Er hat unser Bitten und Flehen gehört! Danke, Wind!“

Die Hasenmutter sprang auf. Drei kleine Elfen flogen um sie herum, so wunderschön und zart und anmutig, so etwas vollkommen Schönes hatte sie noch nie gesehen! „Wo bin ich hier? Wer seid ihr?“

Du bist bei uns im Elfenland. Der Wind hat dich gebracht, weil wir Hilfe brauchen.“ Die Hasenmutter war verwirrt:“Wie kann ich euch helfen? Ich bin nur eine Hasenmutter. Ich kann Möhreneintopf kochen, der würde euch im Hals stecken bleiben, weil ihr so klein seid. Ich kann Wäsche waschen, aber ihr tragt Kleider aus Blättern und Blüten, ich kann Märchen vorlesen, aber ihr  lebt in einem Märchen, ich...“ Die Hasenmutter hatte noch eine lange Liste aufzuzählen, was sie alles nicht war und nicht konnte, da fiel ihr das Allerwichtigste ein:“Wenn jemand helfen kann, egal, was es ist, so ist das mein Hasenmann, er ist fleißig und rechtschaffen und sorgt für mich und meine Familie.“ Da lachten die kleinen Elfen, sie prusteten, schlugen Purzelbäume und konnten gar nicht aufhören zu lachen. Die Hasenfrau verstand gar nichts mehr:“Was gibt es da zu lachen?“ Aber die Elfen konnten nicht antworten, sie lachten und lachten und lachten...

Schließlich erfuhr die Hasenfrau, warum die Elfen um Hilfe gebeten hatten.  Ein böser Troll war in ihren Wald gezogen und hatte einen riesengroßen Baum an ihrem Badeteich gepflanzt. Der Baum sog mit seinen Wurzeln das ganze Wasser auf, nun konnten die Elfen nicht mehr baden. Die Hasenfrau hörte sich die Geschichte an und sagte:“Führt mich zu dem Troll, ich will ihn kennenlernen.“ „Oh nein!“riefen die Elfen,“Er ist böse, wir haben Angst vor ihm!“ Die Hasenfrau schüttelte den Kopf:“Angst, Angst, habt ihr keine Angst, daß ihr nie mehr baden könnt, daß ihr eure wunderschönen Spiegelbilder nie mehr im klaren Wasser betrachten könnt? Führt mich zu dem Troll!“ da gehorchten die Elfen, die Hasenfrau aber war ein wenig erschrocken über sich selbst. Nun gab es kein Zurück mehr, sie waren auf dem Weg zum Troll.

Der Troll wohnte, oder besser hauste in einer finsteren Höhle. Die Hasenfrau bedauerte, keinen Besen dabei zu haben, denn hier gab es viel zu fegen! Als sie in die Höhle hineinrief, antwortete eine verschlafene, raue Stimme:“Was wollt ihr?“ Der Hasenfrau schlug das Herz bis zum Hals, die kleinen Elfen flatterten aufgeregt um sie herum. „Wir sind Nachbarn und möchten dich kennenlernen!“ „Ich habe keine Nachbarn, mich will niemand kennenlernen!“ tönte es zurück. Die Hasenfrau seufzte. „Ich glaube, es ist besser ,wir kommen später wieder.“ Die Elfen nahmen den Rückzug mit Erleichterung auf.

Die Hasenfrau lebte eine Weile bei den Elfen, wie lange, konnte sie nicht sagen, denn im Elfenland gab es keine Zeit. Eines Tages sah sie den Troll unter seinem Baum sitzen und auf den ausgetrockneten See starren. Behutsam näherte sie sich ihm und setzte sich schweigend dazu. Ein kleines Bächlein war auf dem Weg zum See, die Hasenfrau wollte sich freuen, da bemerkte sie, daß es Tränen waren, Tränen die der finstere Troll lautlos weinte. Sie gab ihm wortlos ein Taschentuch, saß sie selbst bestickt hatte. Er nahm es und schnäuzte sich so laut, daß ein knorriger, dörrer Ast von seinem Baum herunterfiel und die Eichhörnchen entsetzt flüchteten.

Da begann der Troll zu erzählen:“Wo ich mein Zuhause hatte, wohnte ich an so einem See. Meine Frau und mein Kind sind eines Abends, es war ein sehr milder Sommerabend, darin baden gegangen und nie zurückgekehrt. Seitdem hasse ich das Wasser und das Licht und die Fröhlichkeit und mich selbst, denn ich habe meine Familie nicht retten können.“ Die Hasenfrau hörte schweigend zu, sie musste an ihre eigene Familie denken. Und sie fing an, dem Troll von ihrem Zuhause zu erzählen. „Und weil du in deinem Zorn und deiner Trauer den Elfen das Wasser geraubt hast, deshalb wurde ich von meiner Familie fortgerissen .“schloß sie ihre Erzählung. Da war der Troll sehr betroffen:“Das wollte ich nicht, ich meine, ich weiß, wie wertvoll es ist, eine Familie zu haben . Meine Frau hat es immer verstanden, uns drei zusammenzuhalten, wir haben gemeinsam geträumt von den vielen schönen Dingen, die wir noch erleben werden. Ich habe viel gearbeitet und war sehr stolz auf mich und immer mit mir beschäftigt. Aber meine Frau hat unserer Familie die Liebe und die Träume gegeben, und das war so viel wichtiger als nur zu arbeiten. Jetzt weiß ich, jetzt, wo ich nur meine Arbeit habe, daß alle Arbeit nichts nützt, wenn die Liebe fehlt, und wenn man nicht weiß, wofür man arbeitet.“ Und besorgt fügte er hinzu:“Du musst zu deinem Mann zurückkehren!“

Es krachte laut im ganzen Wald, als der Troll seinen alten Baum fällte. Die Hasenfrau half ihm dabei, Brennholz daraus zu machen, während die kleinen Elfen unaufhörlich um den See kreisten, der sich langsam wieder mit Wasser füllte.

Als der Himmel sich immer mehr bewölkte und der Wind immer stärker wurde, da wusste die Hasenmutter, daß es nun Zeit war, zu gehen. Sie verabschiedete sich von den Elfen, deren liebliches Bild sie immer in ihrem Herzen bewahren würde. Der Troll drückte ihr ganz fest die Hand:“Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder und lernen unsere Familien kennen! Gute Reise und sag deinem Mann, er kann stolz auf dich sein!“ Der Sturm wurde stärker, die Hasenfrau winkte, und schon wurde sie in die Lüfte gewirbelt...

Kind, schnell, komm! Unsere Mutter ist wieder da, sie ist da, sie ist zurückgekommen! Schnell, lauf, sie ist es wirklich, sie ist zurück, ich bin so froh!“

Der Hasenmann weinte und weinte vor lauter Glück und Freude und drückte seine Frau und das Kind ganz fest an sich. „Weißt du, als du weg warst, hab ich ein altes Buch im Haus gefunden ,“ erzählte er aufgeregt seiner Frau “Da ist von einem Schatz die Rede, den hier noch keiner gefunden hat. Aber weißt du, ich habe ihn gefunden, ja er war schon immer bei mir, ich hab es nur nicht bemerkt.“ Da schaute das Kind die Hasenmutter an und sagte fröhlich:

Ich kenne den Schatz auch – und ich bin froh, daß er wieder da ist!“

 ©K.A., 12.3.02