Zusammenfassung
David ist als König gefestigt und erinnert sich an sein Versprechen gegenüber Jonathan. Er fragt: „Ist noch jemand übriggeblieben vom Haus Sauls, damit ich an ihm Barmherzigkeit erweise um Jonathans willen?“ Man bringt Ziba, einen früheren Diener Sauls, zu ihm. Der berichtet von Mephiboschet, einem gelähmten Sohn Jonathans, der in Lo-Dabar lebt – einem abgelegenen Ort fern vom Zentrum des Geschehens. David lässt Mephiboschet holen.
Der gelähmte Mann wirft sich voller Furcht vor David nieder, denn normalerweise bedeutete ein neuer König das Ende der alten Dynastie. Doch David spricht ihn bei seinem Namen an, beruhigt ihn und gibt ihm die ganze Besitzung Sauls zurück. Ziba und seine Söhne sollen das Land für Mephiboschet bewirtschaften. Gleichzeitig erhält Mephiboschet ein besonderes Vorrecht: Er soll beständig an des Königs Tisch essen, „wie einer der Königssöhne“. Der Text betont mehrfach, dass Mephiboschet an beiden Füßen gelähmt ist – und doch gehört er nun zur Tischgemeinschaft des Königs.
Theologische Interpretation
2. Samuel 9 ist ein Höhepunkt der Darstellung Davids als „Mann nach dem Herzen Gottes“. Der König handelt nicht aus politischem Kalkül, sondern aus chesed – bundestreuer Liebe. Die Frage am Anfang zeigt: Davids Blick geht bewusst auf die, die vergessen wurden. Der Name „Lo-Dabar“ (Ort der Bedeutungslosigkeit) unterstreicht: Mephiboschet lebt am Rand, ohne Einfluss, mit einer schweren Behinderung – ein Überbleibsel einer untergegangenen Dynastie.
David begegnet ihm nicht als Gefahr, sondern als Empfänger von Gnade. Die Grundlage dieser Gnade ist der Bund mit Jonathan, nicht Mephiboschets eigene Leistung. Dreifach wird ihm zugesagt, am Königstisch zu essen: ein starkes Bild für Annahme, Nähe und Würde. Gleichzeitig bleibt seine Gebrochenheit sichtbar – er bleibt gelähmt. Theologisch ist das bedeutsam: Gnade bedeutet nicht, dass alle Schwächen verschwinden, sondern dass der Mensch trotz seiner Begrenzungen in die Gemeinschaft aufgenommen wird.
Davids Handeln spiegelt Gottes Wesen wider. So wie David um Jonathans willen handelt, so handelt Gott um seines Bundes willen – nicht, weil sein Volk Stärke zeigt, sondern weil er treu ist. Mephiboschets Selbstbezeichnung als „toter Hund“ zeigt, wie tief seine Scham sitzt. David widerspricht diesem Selbstbild nicht mit Worten, sondern mit einem Platz am Tisch. Gnade beantwortet Selbstverachtung mit gelebter Annahme.
Aktualisierung mit NT-Bezug
Im Neuen Testament leuchten die Linien von 2. Samuel 9 auf Christus hin. Jesus, der Sohn Davids, sucht nicht die Starken, sondern die Schwachen: Lahme, Arme, Ausgestoßene. In seinen Gleichnissen vom großen Mahl (Lk 14) ruft der Herr die Menschen von den Hecken und Zäunen an seinen Tisch. Paulus beschreibt in Epheser 2, wie Gott „uns mit Christus lebendig gemacht“ und „mit eingesetzt“ hat in die himmlischen Regionen – nicht aufgrund unseres Wertes, sondern „um Jesu willen“.
Mephiboschet ist ein eindrückliches Bild für den Menschen vor Gott: geistlich „gelähmt“, ohne Anspruch, geprägt von Scham. Aber um des Sohnes willen – um Jesu willen – holt Gott uns aus unserem „Lo-Dabar“ an seinen Tisch. Abendmahl und Gemeinschaft der Glaubenden sind sichtbare Zeichen dieser angenommenen Sohnschaft. Die Gemeinde ist gerufen, ein Raum zu sein, in dem Menschen mit sichtbaren und unsichtbaren Behinderungen, mit Brüchen und Schamgeschichten, nicht nur geduldet, sondern eingeladen sind, „mit am Tisch zu sitzen“.
Fazit
2. Samuel 9 erzählt eine der zartesten Geschichten der Bibel über Gnade. Der mächtige König sucht den vergessenen, gelähmten Enkel seines ehemaligen Feindes, um ihm um eines Bundes willen Güte zu erweisen. Die Spannweite dieser Geschichte reicht bis zum Kreuz: Gottes Gnade findet uns, wo wir uns selbst abgeschrieben haben. Ein Leitsatz könnte lauten: „Gott holt Menschen aus Lo-Dabar an den Tisch des Königs.“ Wer Davids Haltung verinnerlicht, wird nicht zuerst fragen, was andere „bringen“, sondern wem er um Jesu willen Gutes tun kann – besonders denen am Rand.
Studienfragen