Texterläuterung
Nach den Turbulenzen in Ephesus reist Paulus weiter: über Mazedonien nach Griechenland, dann zurück über Troas. Dort ereignet sich ein dramatischer Zwischenfall: Während Paulus eine nächtliche Predigt hält, schläft ein junger Mann namens Eutychus am Fenster ein und fällt aus dem dritten Stock. Er wird für tot gehalten – doch Paulus belebt ihn wieder, und die Gemeinde ist tief getröstet.
Der zweite Teil des Kapitels ist von großer emotionaler Dichte: Paulus will möglichst schnell nach Jerusalem, lässt aber die Ältesten von Ephesus nach Milet kommen. Dort hält er eine Abschiedsrede – seine einzige überlieferte Rede an Christen.
Er erinnert sie an sein unermüdliches, aufrichtiges Wirken: in Demut, unter Tränen, trotz Prüfungen. Nun gehe er, im Geist gebunden, nach Jerusalem – nicht wissend, was dort geschieht, nur dass Gefangenschaft und Leiden auf ihn warten. Doch sein Ziel ist klar: „Ich achte mein Leben nicht der Rede wert, wenn ich nur meinen Lauf vollende.“
Er ruft die Ältesten auf, als Hirten der Gemeinde wachsam zu sein, sich vor falschen Lehrern zu hüten und sich der Gnade Gottes anzuvertrauen. Dann erinnert er an seine eigene Lebensweise – nicht bereichernd, sondern dienend. Seine letzten Worte sind ein Zitat Jesu: „Geben ist seliger als nehmen.“
Theologische Interpretation
Apostelgeschichte 20 zeigt Paulus als geistlichen Vater, nicht nur als Missionar. Seine Abschiedsrede ist ein Vermächtnis an die Gemeinde, vor allem an ihre Leiter. Er sieht Verantwortung nicht als Macht, sondern als Dienst.
Zugleich ist sein eigenes Leben ein Zeugnis: kein Besitzstreben, sondern Hingabe; kein Sicherheitsbedürfnis, sondern Gehorsam. Die zentrale Aussage – „Ich achte mein Leben nicht der Rede wert“ – ist Ausdruck einer Ethik, die vom Ziel her lebt: Christus dienen, bis zuletzt.
Die Ermahnung zur Wachsamkeit ist nicht misstrauisch, sondern seelsorgerlich. Paulus weiß: Gemeinden sind verletzlich – nicht nur von außen, sondern auch von innen. Die Lösung liegt im Vertrauen auf Gottes Wort und Gnade.
Leitthema aus heutiger Sicht: Geistliche Leiterschaft als dienende Verantwortung
Paulus’ Rede ist ein Plädoyer für eine dienende, authentische, selbstlose Leiterschaft. Keine Kontrolle, kein Eigennutz – sondern Sorge um Menschen, klare Lehre, Vorbild im Alltag.
Ein aktuelles Beispiel ist Ellen Johnson Sirleaf, Präsidentin von Liberia (2006–2018) und erste gewählte Frau im höchsten Amt Afrikas. Sie leitete das vom Bürgerkrieg zerrüttete Land mit Integrität, förderte Versöhnung, Bildung und Frauenrechte – oft unter Lebensgefahr. Ihre Haltung war geprägt von Verantwortung statt Machtstreben, Demut statt Selbstinszenierung. In ihrer Biografie beschreibt sie, wie Glaube, Mut und Dienst sie geprägt haben. Ihr Führungsstil erinnert an Paulus’ Wort: „Ich habe euch alles gezeigt, dass man so arbeiten und sich der Schwachen annehmen muss.“
Zusammenfassung
Apostelgeschichte 20 ist Paulus’ Vermächtnis: Ein Ruf zur Treue, zur Leiterschaft im Dienst, zum Vertrauen auf Gottes Wort. Es geht nicht um Zahlen oder Erfolg, sondern um Herzenshaltung, Ausharren und Hingabe. Christliche Gemeinde braucht solche Hirten – damals wie heute. Wer so lebt, braucht das eigene Leben nicht festzuhalten – weil er weiß, wofür er es einsetzt.