Texterläuterung
Kapitel 22 beginnt unmittelbar nach Paulus’ Verhaftung in Jerusalem. Auf den Stufen der Burg erhält er die Erlaubnis, zur aufgebrachten Menge zu sprechen. In der Landessprache (Aramäisch) schildert er in ruhigem Ton seinen Werdegang: Als gebürtiger Jude, in Tarsus geboren, in Jerusalem bei Gamaliel ausgebildet, war er ein eifriger Verfolger der Jesusbewegung.
Dann beschreibt er seine Begegnung mit dem auferstandenen Christus auf dem Weg nach Damaskus. Er schildert seine Erblindung, das Wirken von Hananias, seine Heilung und Taufe. Paulus betont: Er handelte aus jüdischer Überzeugung – bis Jesus selbst ihm begegnete.
Anschließend berichtet er, wie er in einem Tempelgebet die Vision empfing, dass er zu den Heiden gesandt werden solle. Das Publikum hört ihm gespannt zu – bis er das Wort „Heiden“ ausspricht. Dann schlägt die Stimmung um. Die Menge tobt, fordert seinen Tod, und Paulus wird ins Innere der Burg gebracht.
Dort soll er ausgepeitscht werden, doch er verweist auf sein römisches Bürgerrecht. Der Kommandant erschrickt: Einen Bürger ohne Verurteilung zu foltern, ist illegal. Paulus wird unter Schutz gestellt. Das Kapitel endet mit der Vorbereitung auf das Verhör vor dem jüdischen Hohen Rat.
Theologische Interpretation
Apostelgeschichte 22 zeigt Paulus nicht als Ankläger, sondern als Zeuge. Er verteidigt sich nicht mit juristischen Argumenten, sondern erzählt seine Lebensgeschichte – und macht deutlich: Der Glaube an Jesus Christus ist kein Bruch mit dem Judentum, sondern dessen Erfüllung.
Sein Zeugnis zeigt, dass echter Wandel von innen kommt – nicht aus Überzeugungswechsel, sondern aus einer Begegnung mit dem lebendigen Christus. Die Ablehnung seiner Person beginnt nicht bei seiner Vergangenheit, sondern bei seiner Sendung: die Öffnung zu den Heiden ist der eigentliche Skandal.
Zugleich nutzt Paulus sein Bürgerrecht nicht zur Flucht, sondern zur legitimen Wahrnehmung von Schutz. Er lebt den Glauben nicht außerhalb der Strukturen, sondern innerhalb der Ordnung – aber mit prophetischer Klarheit.
Leitthema aus heutiger Sicht: Das persönliche Zeugnis als Brücke
Paulus zeigt, wie ein authentisches Lebenszeugnis Brücken bauen kann – selbst in feindlicher Atmosphäre. Er spricht die Sprache der Zuhörer, knüpft an ihrer Geschichte an, bleibt ruhig. Und doch: Ein Zeugnis, das Jesus ins Zentrum stellt, wird nicht immer angenommen.
Ein aktuelles Beispiel ist Nabeel Qureshi (1983–2017), ein amerikanischer Muslim, der durch intensive Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben zum Glauben an Jesus Christus fand. In seinem Buch „Suchte Allah und fand Jesus“ schildert er ehrlich seinen intellektuellen und emotionalen Weg – mit tiefem Respekt für seine Herkunft. Wie Paulus musste auch er erleben, dass seine Entscheidung Ablehnung, Spannungen und Zerbruch bedeutete – doch er bezeugte Christus bis zu seinem frühen Tod durch Krebs mit Gnade, Klarheit und Liebe.
Zusammenfassung
Apostelgeschichte 22 ist ein Kapitel über den Wert des Zeugnisses – nicht als Verteidigung, sondern als Einladung. Paulus zeigt, dass man selbst im Widerstand ruhig, wahrhaftig und voller Respekt reden kann. Doch Wahrheit bleibt nicht immer ohne Anstoß. Wer Christus bekennt, wird nicht überall verstanden – aber gebraucht. Denn Gott handelt nicht nur durch Argumente, sondern durch Menschen, die ehrlich erzählen, wie Christus ihr Leben verändert hat.