1. Texterläuterung
Kapitel 21 bildet den traurigen Epilog zum Buch Richter. Nach dem fast vollständigen Auslöschen des Stammes Benjamin im Bürgerkrieg (Kapitel 20) erkennen die Israeliten, dass ihr Zorn Konsequenzen hatte: Nur 600 Männer Benjamins leben noch. Doch es gibt keine Frauen mehr für sie, da man geschworen hatte, keine der eigenen Töchter an Benjamin zu geben.
In einem verzweifelten Versuch, den Stamm vor dem Aussterben zu bewahren, suchen die übrigen Stämme nach einer Lösung – und greifen zu zweifelhaften Mitteln. Sie erinnern sich, dass niemand aus Jabesch-Gilead am Treffen in Mizpa teilgenommen hatte. Kurzerhand schicken sie eine Streitmacht dorthin, töten alle Männer und verheirateten Frauen und bringen 400 Jungfrauen zu den Benjaminern.
Doch das reicht nicht. Also schlagen die Ältesten vor, dass die verbleibenden Männer beim Fest in Silo junge Frauen entführen sollen, während diese beim Tanzen sind. Die Stämme versprechen, nicht einzugreifen – es sei ja keine offizielle Verheiratung.
So endet das Buch mit einem Notbehelf menschlicher Logik, mit Gewalt und Täuschung – und mit dem wiederholten Satz: „Zu jener Zeit gab es keinen König in Israel; jeder tat, was recht war in seinen Augen.“
2. Theologische Interpretation
Richter 21 ist wie ein Echo auf das ganze Buch: ein Volk ohne geistliche Führung, gefangen in selbst geschaffenen Dilemmata. Der Wille, Benjamin zu erhalten, ist verständlich. Doch die gewählten Methoden – Massaker, Raub, Täuschung – zeigen, wie sehr Israel von Gottes Wegen abgewichen ist.
Die Tragik liegt darin, dass die Schuld nicht bereinigt, sondern nur umverteilt wird. Gewalt erzeugt neue Gewalt. Eide, die aus Zorn geschworen wurden, werden zum Hindernis für Barmherzigkeit. Und statt Buße folgt die Suche nach Schlupflöchern.
Es fehlt nicht an Empörung, sondern an geistlicher Einsicht. Am Ende ist Israel erschöpft und ratlos. Der letzte Satz bringt das auf den Punkt: „Jeder tat, was recht war in seinen Augen.“ Kein Gott, kein König, keine Ordnung.
Und doch liegt in dieser Tiefe eine Einladung: Gott bleibt geduldig. Die Geschichte Israels endet nicht hier. Sie wartet auf einen König – einen, der nicht nur Ordnung bringt, sondern auch Gnade.
3. Leitthema aus heutiger Sicht: Wenn Menschen Gerechtigkeit ohne Gott gestalten
Das Kapitel erinnert an moderne Versuche, menschliche Not durch eigene Lösungen zu „regeln“, ohne echte Umkehr. Wenn Menschen in Krisen keine geistliche Orientierung haben, greifen sie zu fragwürdigen Mitteln – auch heute.
Ein Beispiel dafür ist die „Zwangsadoption“ von Kindern indigener Familien in Australien während des 20. Jahrhunderts, die sogenannte „Stolen Generations“. Unter dem Vorwand, das Wohl der Kinder zu sichern, wurden aboriginal Kinder ihren Familien entzogen, um sie „zivilisiert“ zu erziehen. Die Maßnahmen, ursprünglich politisch und „wohlmeinend“, wurden ohne die betroffenen Familien geplant – und führten zu tiefem Leid und kultureller Entwurzelung. Heute gelten sie als historische Ungerechtigkeit. Wie in Richter 21 wurde gut gemeint – aber ohne echte Reue, ohne Rücksprache, ohne Barmherzigkeit – eine Lösung gesucht, die neues Unrecht schuf.
4. Zusammenfassung
Richter 21 schließt ein verstörendes Buch mit einem bitteren Nachgeschmack: gut gemeint ist nicht gut getan. Die Israeliten wollten retten, was sie zuvor zerstört hatten – und wählten Wege, die erneut zerstörten. Der letzte Satz steht als Mahnung über dem Buch: Wer Gottes Herrschaft verlässt, verliert die Orientierung. Und doch: Die Geschichte ist offen. Gott bleibt treu. Und am Ende wird ein König kommen – nicht wie die anderen, sondern nach dem Herzen Gottes. Jesus. Der, der nicht nimmt, sondern gibt – und aus Trümmern Neues schafft.