Lila

Es war warm im Turmzimmer. Die Sonne beschien die Mauern und den Wald, über den Feldern stiegen Lerchen und Greife segelten im Aufwind. Sommerland. Das Reich muß uns doch bleiben, dachte sie. Welches Reich? Sie wußte es nicht, dachte nur jeden Tag zur selben Zeit, wenn sie morgens am Fenster stand, diesen einen Satz. Eine Zeile aus einem Lied? Zur Guitarre? Womöglich von ihr selbst gedichtet?

Hinabgehen und vor die Tür treten. Irgendwann mußte er ja kommen, der Bote. Jemand würde ihr dann eine Nachricht geschickt haben, die sie aber schon kennte, und jemand liebte sie, den sie aber noch nie gesehen hätte.

Zuweilen dachte sie, wenn sie im ummauerten Burggarten die Unkräuter jätete und Tausendschönchen goß: Immer diese bedeutungsschwere Warterei. Warum kann man nicht einfach leben? Ich sollte fortgehen, dachte sie und schritt an diesem Morgen durchs klapprige Gartentörlein, frisch auf den Weg, der an Hecken vorbei über Wiesen bis zum Wald führte, durch ihn hindurch und ins weite Land hinaus.

Ins Offene, wo eines Tages der König erscheinen würde. Wahrscheinlich herrlich auf einem Schimmel oder armselig auf einem Eselsfohlen, das ist ja immer das Bedeutungsschwere bei solchen Geschichten.

Aber trotzdem, dachte sie.

Bevor sie im Wald verschwand, blickte sie noch einmal zurück, auf den Turm, das Geviert der Mauern, den Garten.

Kann sein, fiel ihr da ein, daß ich bei der ganzen Geschichte ein Wort vergessen habe. Aber man mußte auch Dinge unerledigt liegen lassen können, wenn man anfing zu leben.

Rainer Gross (Otzing, 98.11.07)