aber
Gott schwieg.......
Wunderschön schien die Sonne an
jenem Septembernachmittag in Nordnorwegen, als Ole Einar
Björndalen die Tür seines weißen Holzhauses
schloss und sich auf den Weg zu der kleinen Dorfkirche von
Lureby machte. Lureby ist ein verschlafenes und vergessenes Nest
hoch oben in der Finnmark, im Hochland hinter dem Laksefjord.
Dort schlängelt sich östlich von Lebesby ein kleines
Tal an einem Nebenarm des Tanafjordes ins Land hinein,
erreichbar nur über eine Schotterstraße, die im
Winter zeitweilig unpassierbar ist. Ole Einar war der Pastor der
kleinen Gemeinde, die ganze 19 Seelen zählte, und weil
seine Schar so klein war, kannte er alle seine Schäfchen
gut und sie kannten ihn und vertrauten ihrem „Pastor“,
der eigentlich gar keiner war. Denn Ole war einst Fischer in
Alta gewesen, bis ihm ein schadhafter Mastbaum das rechte Bein
zerschlug und er seitdem nur noch Touristen mit seinem
klapprigen Fischerboot zum Øksfjordjøkelen,
dem neuntgrößten Gletscher Norwegens,
fahren
konnte. Als er schon einige Jahre in Rente war, hatte der Herr
ihn in seinen Dienst gerufen, den er mit großer Hingabe
und treuem Eifer versah, zumal er als Witwer sehr zurückgezogen
lebte und daher die Gemeinschaft mit den anderen am Sonntag zu
schätzen wusste. Und er liebte dieses alte weiße
Kirchlein, das an der tiefsten Stelle des Tales errichtet worden
war, während alle anderen, ebenfalls weiß
gestrichenen Häuser an die beiden Hänge des Tales
gebaut worden waren. Nein, nicht alle Häuser waren weiß.
Es gab noch das blaue von den beiden Gustafsons und das gelbe
der Pettersons. Beide Familien waren noch nie im Gotteshaus
erschienen, trotz vieler Einladungen und Gebete, und es half
nicht, dass man sie stets freundlich grüßte und ihnen
sogar Hilfe angeboten hatte, als ein Steinschlag vor einigen
Jahren ihre Häuser beschädigt
hatte. Sie galten zum Leidwesen der anderen Dorfbewohner als
nicht missionierbar und wurden daher im Ort nur die „Heiden“
genannt. Ob es wohl Zufall ist, dass gerade ihre Häuser
sich vom Weiß der anderen deutlich absetzen, dachte Ole
und öffnete die knarzende Kirchentür. Sofort quoll ihm
ein kräftiger Choral entgegen. „Lobe den Herren, den
mächtigen König der Erden.....“ spielte Odd
Hansen, der pensionierte Kantor der kleinen Gemeinde, inbrünstig
auf seinem Harmonium. Er war vor Jahren am grünen Star
erblindet, aber sein Gehör hatte sich dadurch so geschärft,
dass ihm kein falscher Ton des in die Jahre gekommenen
Harmoniums entging. Er verzieh sich keinen Fehler und so übte
er sicherheitshalber sein Liedpensum noch einmal direkt vor
einem Gottesdienst. Schon seit geraumer Zeit hatte die Gemeinde
nach einigem Hin und Her eine Lobpreiszeit während des
Gottesdienstes eingeführt, in der Odd von Anders mit einer
Gitarre begleitet wurde. Das hatte neuen Schwung in die Gemeinde
gebracht, obwohl Anders zunächst dagegen gewesen war, er
hielt Lobpreis für nicht schriftgemäß, da in ihm
meist wichtige Elemente wie Sünde, Strafe und Buße
ausgeblendet werden. Anders kannte sich sehr gut – einige
meinten sogar besser als der Pastor – in der Bibel aus.
Während Ole predigte, hatte Anders oft mit aufgeschlagener
Bibel dagesessen, dann und wann genickt oder mit dem Kopf
geschüttelt, je nachdem, ob er Oles Auslegung für
richtig hielt oder nicht. Viele Jahre hatte er sich so
verhalten, bis die Gemeinde eine Lösung im Umgang mit
seinen „überfrommen Macken“, wie sie es nannte,
gefunden hatte. Fairerweise gestand man ihm aber zu, dass er
wirklich die bewundernswerte Begabung besaß, zu jedem
halbwegs bekannten Bibelvers sofort die passende Schriftstelle
nennen zu können. Allerdings war es ihm nie gelungen,
„Ältester“ in der Gemeinde zu werden, weil man
offenbar fürchtete, die Gemeinderatssitzungen würden
sich stark in die Länge ziehen, wenn man mit Anders
stundenlang darüber diskutieren müsse, was die Bibel
zu diesem oder jenem Thema zu sagen habe. Nun hatte aber seine
Frau Bjorg bei der letzten Mitarbeitersitzung dermaßen
laut protestiert und geradeheraus von Mobbing gesprochen, weil
ein so geistlicher Mann, wie der ihre, nie eine Chance zum Amt
des Ältesten bekommen habe, dass man beschloss, ihn in
der nächsten Gemeindeversammlung endlich für dieses Amt
vorzuschlagen. Das hatte Anders stolz gemacht und er gab sich
noch mehr Mühe, alle biblischen Fragen ins rechte Licht zu
rücken. Allmählich füllte sich der helle, fast
schmucklose Kirchenraum. Eline und Kari trafen ein, zwei
Chorsängerinnen, ebenso wie Linea und Sofie und auch Rafna
und Sussu, zwei Samifrauen. Ferner sang auch Bjorg, die Frau von
Anders, im Chor mit wie auch Jonas, ein Frührentner, der es
genoss, als einziger Mann im Chor der Hahn im Korb zu sein.
Chorleiterin war Inger, eine stattliche Frau, die den Männern
früher beim Fischen geholfen hatte, aber nun diesen so ganz
anderen Dienst mit Inbrunst ausübte. Jetzt fischte sie mit
ihren Liedern die Traurigkeit aus den Herzen der Gläubigen
und legte diese Gott zu Füßen. Es war ein schönes
Bild, wenn sie mit ihren stets langen, ausladenden Kleidern vor
ihren Sängern stand und ihnen neben den alten Liedern auch
viele neue rhythmische Lieder beibrachte. Die alte Tür
knarzte wieder, um Kjel und seine Frau Silje hereinzulassen, die
sich fröhlich grüßend zu Arne und Torill
setzten. Beide Männer waren gestandene Fischer und Älteste
der Gemeinde. Der dritte Älteste war Thor, der sich trotz
dieses heidnischen Namens auch als Menschenfischer bewiesen
hatte, denn er hatte Knut Hanson, einen alten schwerhörigen
Mann, der im letzten Krieg ein Partisan gewesen war und Dinge
getan hatte, die keiner so richtig wissen wollte, zum Herrn und
in die Gemeinde geführt. Jeder hier war froh, dass Knut
Jesus und Jesus Knut gefunden hatte. Die anderen Fischer wären
auch gerne Menschenfischer geworden, aber leider gab es in
Lureby keine Menschen zu fischen, bis auf die vier Heiden in
ihren bunten Häusern, aber die hatten sich ja als immun
gegen jede Art von Missionierung erwiesen. Anders meinte daher,
von der Bibel her gesehen, sollten sie den Staub von ihren
Schuhen schütteln und diese Leute nicht einmal grüßen,
denn sie hätten ihr Heil verspielt. Inzwischen waren sie
alle gekommen, die 19 Mitglieder dieser kleinen aber lebendigen
Gemeinde in Lureby. Nein, einer fehlte noch: Lasse, der Schwede,
der sich stets höflich und hilfsbereit zeigte., obwohl er -
wie alle Schweden in Norwegen - als langweiliger Besserwisser
galt. Mit seinem uralten Volvo-Lastwagen lieferte er den Fang
der Fischer bei der Fischereigenossenschaft in der nächsten
Stadt ab und auf der Rückfahrt brachte er von dort
Lebensmittel und anderes für die Leute im Dorf mit.
*
Sie
waren nicht reich an Gütern, die Leute in Lureby, aber
reich in ihrem Glauben und ihrer Hoffnung auf Jesus Christus.
*
Als
das Läuten der kleinen Glocke im Dachreiter der Kirche mit
einigen dünnen Tönen ausgeklungen war, breitete sich
eine große Stille in der Kirche aus, fünf Minuten
"Ruhe für den Herrn", wie die Leute von Lurey sie
nannten. Es hatte sie gestört, dass alle stets aus ihren
Gesprächen gerissen wurden und die Unruhe im Raum nur
langsam verebbte, wenn das Eingangslied gespielt wurde und der
Gottesdienst begann. Sie hielten es für angemessener, in
Ruhe und Anbetung den Herrn und den Beginn des Gottesdienstes zu
erwarten. Und so erschraken einige nun stets, wenn Odd mit
seinem Harmonium eben diese andächtige Stille beendete.
Mächtig spielte er auf dem alten Instrument, so laut, dass
das Quietschen des Blasebalgs im Donnern des Chorals unterging.
Aber dieses Quietschen war auch schon der einzige Misston im
Gottesdienst. Nach der ersten Strophe setzte der Chor ein und
nach der dritten sang die ganze Gemeinde: „Lobe den
Herren.“ Das war schön anzuhören, zumal es nicht
so getragen gesungen wurde wie in anderen großen Kirchen,
sondern schwungvoll, mitreißend und laut. Und es folgte
gleich das nächste Lied „Deilig er jorden“
(Herrlich ist die Erde) und Odd steigerte die Lautstärke
noch von Strophe zu Strophe bis zum Schluss alle mit ihren Füßen
auf den Holzboden trommelten und einander froh zusangen:
„Menneske, fryd deg! Oss er en evig Frelser født!
(Menschen freut euch, euch ist ein ewiger Retter geboren)“
Und es tat ihrer Freude keinen Abbruch, dass dieses Lied
eigentlich ein Weihnachtslied ist. Sie meinten, die Botschaft
von Weihnachten könne man doch an jedem Tag neu
erleben. Hätte es einen Fremden in diese so weit
nördlich gelegene, zutiefst einsame Gegend verschlagen und
er wäre in jenen Gottesdienst geraten, er wäre sofort
mitgerissen von der fröhlichen Sangesfreude dieser von Gott
so begeisterten Leute. Nun trat Kjell vor den schmucklosen
Altar mit dem silbernen Kreuz und berichtete, dass er in der
vergangenen Woche auf seinem Schiff beim Einholen des Fanges
ausgerutscht sei und sich den Fuß dabei derart verletzt
habe, dass er mit dem Schlimmsten habe rechnen müssen,
nämlich einem gebrochenen Fuß und mindestens zwei
Wochen Arbeitsunfähigkeit. Letzteres bedeute für ihn
natürlich einen Verdienstausfall, den er und seine Frau
Silje sich in ihrer besonderen Situation gar nicht leisten
könnten. Alle in der Kirche wussten, dass die beiden gerade
das Dach ihres Hauses erneuert hatten, da das alte beim letzten
Sturm eingebrochen war, und sie seitdem jede Öre nötig
hatten, um die Reparaturkosten bezahlen zu können. Kjell
fuhr fort, man habe ihn nach Hause gebracht, aufs Bett gelegt
und dann seien die Ältesten Arne und Torill und auch Pastor
Ole Einar gekommen und hätten mit ihm gebetet. Gott habe,
Dank und Preis sei ihm dafür, ihr Gebet erhört und
schon nach drei Tagen kalter Umschläge und einiger
Schmerztabletten sei er wieder auf den Beinen und gestern sogar
wieder auf seinem Boot gewesen. Und da Kjell alles, was er in
der Gemeinde je gesagt hatte, stets mit einem mahnenden Blick
auf die Endzeit beendete, tat er es auch dieses Mal mit den
Worten : „Niemand von uns sollte vergessen, dass Gott
gerade jetzt in den Tagen der Endzeit bei seinen Kindern ist und
sie Mut machend unterstützt. Wenn wir uns zu ihm stellen,
stellt er sich auch zu uns.“ Er beendete sein Zeugnis mit
einem fröhlichen: „Halleluja, Gott ist gut!“
und setzte sich wieder mit Tränen in den Augen. Auch die
anderen waren tief berührt. Inger gab ihrem Chor ein
Zeichen, der darauf vielstimmig, durch dieses Zeugnis gestärkt,
den Chorus anstimmte: „Gott ist gut! Wir singen laut, ja,
Gott ist gut.“
Und
sie taten, was sie sangen, laut hallte das Lied durch den Raum,
abwechselnd vom Chor und der Gemeinde gesungen, und Anders
schlug in die Saiten seiner Gitarre, dass es eine Freude war. Es
folgte: „Jesus, in deinem Namen ist die Kraft“. Bei
der dritten Strophe erhoben die Sänger ihre Arme und Augen
zum Himmel, so als könnten sie den Sohn Gottes durch die
Kirchendecke hindurch wahrnehmen. Sie sangen noch drei weitere
kurze Lieder und dann fragte Ole, ob jemand während des
Lobpreises einen Eindruck oder ein Bild von Gott erhalten habe.
Nach dieser Frage wurde es nicht, wie andernorts oft, peinlich
und mäuschenstill in der Gemeinde, denn hier in Lureby
folgten diesem Aufruf stets sehr zuverlässig entweder Eline
oder Kari, selten beide, und berichteten von ihren Eindrücken,
die sie während des Gesangs erhalten hatten. Sollte Gott
ihnen keine geschenkt haben, erzählten sie von Visionen, in
denen sie Jesus gesehen hatten, der mit einladend ausgestreckten
Armen vor ihnen gestanden habe. Das Besondere dieser „Bilder“,
wie sie sie nannten, war die Schilderung seiner Gewänder,
die Eline oder Kari jedes Mal in leuchtenden Farben ausmalten.
Die Gemeinde war eine Zeit lang skeptisch gegenüber
diesen sich oft wiederholenden Visionen gewesen, ergab sich dann
aber in das offenbar Unvermeidliche und war insgeheim auch ein
wenig neugierig, welche Kleidungsstücke Jesus denn an
diesem Sonntag trug. Heute war es Kari, die nach vorne ging
und sagte, Gott habe ihr in einem Bild einen Vogel auf einem
Baum gezeigt, der sich putzte und plusterte, bis ein Raubvogel
sich auf ihn stürzte und mit ihm davonflog. Das traurige
Schicksal dieses armen Vogels konnte sich jeder gut ausmalen.
„Gott zeigte mir eben dieses Bild“, begann Kari mit
der Auslegung, „weil er uns mahnen will, uns nicht so zu
putzen und aufzuplustern wie dieser eitle Vogel, sondern er
liebt uns so, wie wir sind, und wir sollen ihm in Bescheidenheit
nachfolgen!“ - „Amen“, riefen einige. Weitere
Visionen gab es heute nicht und somit war die Zeit für die
Predigt gekommen. Sie stellte für viele den Höhepunkt
der Woche dar, denn was hatten die Menschen in dieser fernen und
öden Gegend sonst, worüber es sich lohnte Gedanken zu
machen? Ole Einar erhob sich, nahm seine Bibel und ging
langsamen Schrittes hinter das kleine Rednerpult. Er bedankte
sich bei Kjell für das Mut machende Glaubenszeugnis und bei
Kari für diese ernste, aber doch wichtige Botschaft. Gott
sei eben nicht nur lieb und freundlich, er könne auch
strafen, um Menschen wieder auf den rechten Weg zu bringen. Ole
sagte noch einiges mehr, gelegentlich neigte er dazu, etwas
ausschweifend zu werden, aber dann atmete die Gemeinde hörbar
auf, als er begann: „Der Herr hat mir für heute eine
gute Botschaft aufs Herz gelegt und mir gezeigt, worin er mich
und euch heute lehren will.“ Das waren die Worte, auf die
alle gewartet hatten, denn mit genau ebendiesen leitete Ole seit
Jahren jede seiner Predigten ein. Dadurch wussten seine Leute,
jetzt kommt das Wesentliche, die Predigt, aus der ihnen immer
wieder neuer Glaube erwuchs, und sie spitzten die Ohren, als er
das ganze Kapitel 7 des Buches Josua aus dem alten Testament
vorlas. Dort steht die Geschichte von Achan, einem
Israeliten, der als einziger nach einer Schlacht gegen die
Anweisung Gottes verstoßen hatte, alles aus Jericho
erbeutete Gold und Silber in die Stiftshütte zu bringen und
die restliche Beute zu verbrennen. Er hatte sich gedacht, ein
bisschen Gold, Silber und ein schöner Mantel stünden
ihm zu und er vergrub alles in seinem Zelt.
Die
folgende Schlacht um Ai ging für Israel verloren, 36
Krieger wurden getötet, andere flohen und Josua, ihr
Anführer, fragte Gott verzweifelt nach dem Grund, warum er
sie verlassen habe. Sie hätten ihn bestohlen, antwortet
Gott, und er werde ihnen nicht mehr helfen, bis der Dieb gefasst
und mitsamt seiner Familie getötet worden sei. Josua ließ
das Volk am nächsten Tag antreten und Gott selbst
offenbarte vor aller Augen die Tat und den Täter, der mit
seiner Familie Gottes gerechte Strafe, den Tod, erleiden
musste. Und dann legte Ole diesen Text sehr wortgewandt aus,
indem er seiner Gemeinde klarmachte, dass Gott bis zum heutigen
Tag keine Schandtat, keine Sünde in seiner Gemeinde dulden
würde und der Herr selbst würde, wenn es doch etwas
Derartiges in der Gemeinde gäbe, es vor aller Augen
offenbaren und den oder die Täter gerecht und streng
bestrafen. „Vergesst es nicht, was uns diese Geschichte
zeigt“, rief er ein wenig theatralisch, „wenn nur
einer unter uns sündigt, wird Gott auch allen anderen seinen Segen
verweigert. Denn Gott ist heilig und er kennt uns in der Tiefe
unseres Herzens. Darum wollen wir uns davor hüten, Gott
etwas vorzuspielen!“ Einige nickten zustimmend, andere
schauten eher etwas betroffen drein. Die folgende Gebetszeit,
die es jedem gestattete, sie mit dem eigenen Gebet zu
bereichern, war kurz und geprägt von dem Anliegen: Bin ich
es Herr, den du meinst, dann zeige es mir, damit ich Buße
tun kann.
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10
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Danach
hatte man es so eingerichtet, dass Anders seinen Kommentar zur
Predigt abgeben durfte. Das war sicher ungewöhnlich, wenn
nicht gar einmalig in kirchlichen Kreisen, aber man hatte sich
überlegt, dass es besser sei, wenn alle hörten, was er
zu sagen hatte, als dass er nach jedem Gottesdienst einzelne zur
Predigt ansprach, um ihnen gegenüber seine kritischen
Gedanken zu äußern. Das hätte nur Gerede und
Getuschel hinter dem Rücken des Pastors gegeben. Darum
hatte man ihm erlaubt, wichtige Einwände gleich nach der
Auslegung kurz und bündig vorzutragen. Anders hatte im
Gegenzug zugesagt, das Kopfschütteln oder Nicken während
der Predigt zu unterlassen. Er trat also hinter das Rednerpult
und wies darauf hin, dass man nach 1. Samuel 21 Gott durchaus
etwas wegnehmen dürfe, denn David war ja nicht befugt
gewesen, die Schaubrote im Tempel zu essen und tat es doch. Aber
das sei wohl eher eine Art Mundraub gewesen. Sollte aber nun
jemand in der Gemeinde denken, fuhr er fort, diese Geschichte
gehöre ins Alte Testament und im Neuen stünde nur
etwas von Vergebung und Liebe, der solle mal in der
Apostelgeschichte 5, 1-11 die Geschichte von Ananias und Saphira
lesen, die ihren Acker für Gott verkauft hatten, ein wenig
vom Erlös für sich behalten hatten, aber dem Apostel
gegenüber behaupteten, dass sie die gesamte Einnahme für
den Acker der Gemeinde spenden würden. Schon diese kleine
Lüge hätten sie genau wie Achan mit dem Leben bezahlen müssen.
Dann setzte Anders sich. Nach dieser Einrede saß die
Gemeinde etwas erschrocken und hilflos da und war erleichtert,
dass Inger spontan zu singen begann: „Du vergibst mir all
meine Schuld und du heilst alle meine Verletzungen.“
Dieses Lied vertrieb das schlechte Gewissen und als sie es zum
dritten Male wiederholten, waren die Gesichter wieder froh und
man nickte sich freundlich zu. Nun waltete Lasse, der
Schwede, seines Amtes, holte den Klingelbeutel aus dem
Schränkchen am Ausgang und reichte ihn herum. Die meisten
legten nur einige Kronen hinein, da der Geldbedarf der Gemeinde
recht bescheiden war: denn außer für Erhalt und
Heizung der Kirche fielen kaum Kosten an. Jeder arbeitete
ehrenamtlich und viel Geld zum Spenden hatten die meisten
ohnehin nicht übrig. Auf ein Zeichen von Ole erhob sich
die Gemeinde und er segnete seine ihm anvertrauten Schäflein
mit einem altchristlichen Segenswort:
Der
Herr sei vor dir, um
dir den rechten Weg zu zeigen. Der
Herr sei neben dir, um dich in die Arme zu schließen, und
dich zu schützen …..... ….Der Herr sei
über dir, um dich zu segnen. So segne dich der gütige
Gott.
Nach dem Segen setzten sich alle wieder und
hielten ein weiteres Mal die „Ruhe für den Herrn"
ein, denn sie waren übereingekommen, sich nicht gleich nach
der Predigt auf den Kaffee zu stürzen. Man wollte das
Gehörte lieber noch einige Augenblicke nachwirken lassen
und nicht gleich zerreden. Auch hatte Ole sie gelehrt, dass es
gut sei, in diesen 5 Minuten darüber nachzudenken, welche
drei Gedanken aus der Predigt jeder mit in seine Woche nehmen
wolle, um sie zu überdenken und sie im Alltag
umzusetzen. Als
sie das getan hatten, gingen alle entweder zur rechten hinteren
Seite des Kirchenschiffes, wo es den leckeren Kirchenkaffee gab,
und ab und zu, besonders wenn jemand Geburtstag gehabt hatte,
auch einen Keks oder einen Skoleboller, oder sie gingen zur
linken Seite, wo Linea und Sofie einen kleinen Büchertisch
hatten, an dem gerne gekauft wurde, denn die Gegend war eben
sehr einsam und die Nächte so hoch im Norden sehr, sehr
lang. Da war ein gutes Buch schnell durchgelesen.
Und
nachdem man fleißig alle Neuigkeiten ausgetauscht hatte,
sofern es denn welche gab, gingen die Leute aus Lureby getrost
und gesegnet nach Hause und waren für die neue Woche
gerüstet.
*
Diese
begann sehr regnerisch so dass niemand gerne vor die Tür
ging, zumal auch noch ein heftiger Wind die Regentropfen gegen
die Häuser peitschte. Der Himmel war ein einziges Grau. Die
regennasse Stille wurde nur durch das gelegentliche helle
Trillern einiger Regenbrachvögel unterbrochen, die lustlos
mit ihren langen, leicht gebogenen Schnäbeln im Moos
herumstocherten. Daheim zu bleiben war Sofie und Linea gerade
recht. Die beiden lebten davon, kleine Holzpuppen in der Tracht
der dort heimischen Samen herzustellen, die bei den Touristen in
der fernen Stadt Alta sehr begehrt waren. Unterstützt
wurden sie bei der Herstellung von den beiden Samifrauen Rafna
und Sussu, die wegen ihrer besonderen Kenntnisse der Samikultur
ausersehen waren, die samische Festtrachten auf das Maß
der Puppen zu verkleinern. Darin waren sie so talentiert, dass
ihr Wissen und ihr Geschick maßgeblich zum Erfolg des
Geschäftes beitrugen. Den Holzkörper der Puppen
stellte Knut Hanson her. Der ehemalige Partisan hatte sich eine
kleine Werkstatt mit verschiedenen Sägen und einer
Drechselbank eingerichtet. Er schätzte den Geruch und
die Bearbeitung des Holzes sehr und freute sich, das Angenehme
mit dem Nützlichen verbinden zu können, indem er den
Holzgrundkörper erstellte. Liebevoll angemalt wurden die
Püppchen schließlich von Linea, während Sofie
ihre Verpackung übernommen hatte. Ganz nach Bedarf brachte
Lasse, der Schwede, einen oder mehrere Kartons mit seinem Wagen
zur Post, die sie nach Alta weiter beförderte. Dort
warteten die niedlichen Püppchen im Einkaufzentrum nicht
weit von der Nordlichtkathedrale auf ihre neuen Besitzer. Meist
waren es Touristen, die ihre Fahrt zum Nordkap in Alta
unterbrachen und froh über dieses originelle Andenken
waren. Ole Einar bereitete die Predigt für den nächsten
Sonntag vor. War er in seinem letzten Vortrag zu streng mit
seiner Gemeinde gewesen, fragte er sich. Ob jeder einzelne
seiner Glaubensgeschwister wohl begriffen habe, dass es ihm als
Pastor stets nur darum ging, jeden von ihnen tief im Wort Gottes
und in der Liebe Jesu zu verwurzeln? Um dieses Ziel zu
erreichen, müsse er von Zeit zu Zeit sehr ernst predigen.
Das Christsein sei doch kein Sonntagsspaziergang, meinte er, und
niemand, der ihm anvertraut war, sollte, billiger Gnade
vertrauend, einen leichtfertigen oder oberflächlichen
Umgang mit Gott pflegen. Andererseits wusste er, dass ernste
Predigten und dauerhafte Ermahnungen schnell Ohren und Herzen
der Zuhörer verschließen können. Das wäre
schlimm, denn er war der Ansicht, eine Predigt sei nur dann eine
gute, wenn mindestens ein einziger Hörer durch sie sein
Verhalten ändern würde. Einar Ole hätte sich
nicht diesen zweifelnden Gedanken hingegeben, wenn er gewusst
hätte, dass dieses Mal gleich zwei Menschen durch seine
Worte tief in ihrem Innersten aufgewühlt worden waren. Der
eine war Jonas, ein Frührentner und Junggeselle, der für
jeden Spaß zu haben war. Als Frohnatur dem Leben
zugewandt, liebte er es, nach dem Gottesdienst beim Kaffee die
Leute zum Lachen zu bringen. Er meinte, viele Christen schauten
viel zu sauertöpfisch drein, da sie offenbar gar keinen
Spaß auf Erden hatten und alle Lebensfreude erst im Himmel
erwarteten. „Das Leben findet hier und heute statt“,
sagte er oft und hatte so manch einen schon von seinen trüben
Gedanken abgebracht. Sein Wahlspruch lautete: Frykt
ikke at ditt liv skal ta slutt. Frykt heller at det aldri skal
begynne. (Fürchte
nicht das Ende des Lebens. Fürchte lieber, dass es niemals
beginnt.)
Aber heute saß Jonas in seinem Sessel und trübe
Gedanken verdunkelten seine sonst so fröhliche Seele. Er
wusste und fühlte tief in seinem Innersten, diese Predigt
hatte ganz allein ihm gegolten. Gott wollte ihm zeigen, dass er
sich von ihm nicht länger durch sein fehlerhaftes Verhalten
beleidigen lässt. Er hatte gesündigt, schwer
gesündigt, und nun würde Gott diese Sünde vor der
ganzen Gemeinde offenbar werden lassen. Wie bei Achan oder bei
Ananias und Saphira. Jahrelang schon hatten Jonas und Linea ein
heimliches Verhältnis miteinander, trafen sich in der Natur
oder in seinem alten Bootshaus unten am Fjord, zweimal hatten
sie sich sogar in der Kirche verabredet, hatten viel miteinander
gesprochen, Zärtlichkeiten ausgetauscht und manchmal auch
mehr. Das Zusammensein mit Jonas hatte Linea gut getan, denn sie
neigte zur Schwermut, was dem oft trüben, kalten und
windigen Wetter Nordnorwegens geschuldet war und auch der
Dunkelheit, die dort oben viel schneller hereinbricht als im
Süden. Er liebte Linea über alles und der Gedanke,
dass nun alles aufgedeckt werden würde und sie in Schande
vor der Gemeinde stehen würde, bedrückte ihn so sehr,
dass es ihm geradezu die Luft abschnürte. Was mit ihm
selbst geschah, konnte er ertragen, aber dass er durch sein
Verhalten Linea in eine solch schreckliche Situation gebracht
hatte, schien ihm unverzeihlich. Sie waren zwar beide
unverheiratet, aber hatte ihr Pastor nicht immer wieder in
seinen wunderbaren Predigten darauf hingewiesen, dass Sexualität
nach dem Willen Gottes in die Ehe gehöre, und er jede
andere Praxis ahnden würde? Warum nur wollte Linea nicht
heiraten und beharrte auf ihrer Meinung, gerade die Heimlichkeit
würde eine Beziehung stärken und interessant machen.
Ihr Standpunkt in dieser Hinsicht lautete kurz und bündig:
Erlaubtes wird schnell langweilig. Und nun standen sie vor dem
Ergebnis dieser ihrer Heimlichtuerei. Jonas schämte sich,
lief wie ein waidwundes Tier auf und ab und fragte sich, wie
Gott es wohl anstellen würde, sie beide zu entlarven.
Vielleicht hatte Eline oder Kari einen Eindruck, dass Sünde
und Unsegen in der Gemeinde sei und Ole Einar würde dann
sagen, wer das zu verantworten habe, möge sich zu erkennen
geben. Was sollte er dann tun? Jonas Inneres war aufgewühlt
und der Geist Gottes, so empfand er es, rumorte in ihm, denn die
Wahrheit wollte ans Licht. Irgendwann in diesen Tagen kam er
auf die Idee, Linea anzurufen. Um sie aber nicht unnötig
mit seinen Ängsten zu belasten, falls sie die Dinge anders
sah, fragte er vorsichtig, nachdem er sich nach ihrem Befinden
erkundigt hatte, wie ihr die Predigt gefallen habe. „Ganz
gut,“ antwortete sie, „man soll eben nicht gierig
nach Geld und Gut sein.“ So sah sie das? Keine
Betroffenheit von ihrer Seite? Jonas atmete erleichtert auf und
war wenigstens etwas beruhigt. Zumindest fürs Erste. Die
zweite, die mit der Predigt vom Sonntag haderte, war die
Chorleiterin, Inger Olafson. Ihre Probleme waren
ganz anderer Art, aber ebenso schmerzlich. Vor 15 Jahren hatte
sie mit ihrem Mann in Trondheim gelebt. Sie führten dort
einen bescheidenen Zwischenhandel für die Klein-Fischer. Es
ging ihnen recht gut, bis eines Tages etwas passierte, das ihr
ganzes Leben dauerhaft ins Chaos stürzen würde. Ihr
Mann war nach einer Sitzung des Ältestenrates ihrer
Kirchengemeinde auf dem Weg zu dem kleinen Haus am Hafen, in dem sie damals wohnten, als
einige Personenwagen mit großer Geschwindigkeit aus der
Dronningens Gate rechts in die Munkegata einbogen. Einer der
Fahrer verlor die Kontrolle über seinen Wagen und überfuhr
ihren Mann, der gerade den Fußgängerüberweg
betrat. Er war auf der Stelle tot. Wie sich später
herausstellte, saßen in den Autos einige junge Leute, die
aufgedreht und berauscht von einer Party zur anderen fuhren. Und
obwohl das norwegische Jugendrecht eine Bestrafung mit bis zu
zwei Jahren Behandlungsanstalt ermöglicht, bekam der
jugendliche Fahrer des Unglücksautos gerade einmal 6 Monate
und einige Stunden Sozialarbeit, da er zum Zeitpunkt des Unfalls
schwer betrunken und damit nicht voll verantwortlich gewesen
sei. Dieses Urteil war Inger seither stets ein Stachel im
Herzen. Ihr Mann war gestorben, ihr Leben, ihre berufliche
Existenz von einer Minute auf die andere für immer zerstört
und der Täter erhielt nur eine Ministrafe. Aber noch größer
war ihr Unverständnis Gott gegenüber. Wie konnte er es
zulassen, dass ihr Mann auf dem Weg von der Kirche nach Hause,
also gewissermaßen im Dienst für seinen Herrn, so
sinnlos ums Leben kommen konnte? In vielen Gebeten und
seelsorgerlichen Gesprächen mit Ole hatte sie ihr Leid
geklagt und Frieden für ihre Seele erbeten.
Sie
ertrug es kaum, wenn jemand ständig von der unendlichen
Liebe Gottes sprach, und sie verstand nicht, warum Ole ihr immer
wieder riet, sie solle ihr Leid loslassen. Wie geht dieses
Loslassen? Sie konnte es nicht. Nur im Lied, im Gesang spürte
Inger Frieden, in der lyrischen Annäherung an Gott. Die
Predigt am Sonntag hatte viele ihrer Wunden wieder aufgerissen,
zeigte doch die Achan-Geschichte ebenso wie die von Ananias und
Saphira ganz deutlich Gottes gelegentliche Grausamkeit, ja seine
Mitleidlosigkeit gegenüber den Menschen und das sogar alles
nur wegen einiger materieller Güter. Er gab ihnen keine
zweite Chance, keine Möglichkeit zur Buße oder zur
Vergebung, wie Christen nicht aufhören zu predigen. Achan,
seine Frau, seine Kinder und seine ganze Sippe mussten sterben.
Aus und Ende. Und ihr Mann, so dachte Inger, musste das auch,
sogar ohne irgendetwas Falsches getan zu haben. Sie empfand
dieses Handeln Gottes als zutiefst ungerecht, ja unbarmherzig.
Sie verstand es nicht und fürchtete dennoch gleichzeitig,
Gott Unrecht zu tun. Ihr Herz wollte ihn ja lieben, aber ihr
Verstand säte manchmal Zweifel. Nicht immer, nein, aber an traurigen Tagen.
Sie weinte und das half ein
wenig.
*
Das
Leben in Lureby ging weiter. Und wenn die Zeit auch nicht alle
Wunden heilt, so dämpft sie doch Schmerz und lässt ein
schlechtes Gewissen abklingen. Am Samstag sah für Jonas das
Leben schon wieder ganz anders aus und Inger suchte gewissenhaft
einige Lieder für den Gottesdienst aus. Der Sonntag kam
und Kjell und Silja bereiteten sich darauf vor, zum
nachmittäglichen „Godi“, wie sie ihn liebevoll
nannten, zu gehen. Er war der Höhepunkt der Woche für
sie in normalen Zeiten. "Normale Zeiten" bedeutete für
Kjell: täglich zum Fischen zu gehen, auszuruhen, um dann
wieder Fischen zu gehen. Für Silja war es die tägliche
Hausarbeit, die Zubereitung der gemeinsamen Mahlzeiten und die
wiederkehrenden Spaziergänge mit dem Hund, entweder das Tal
weiter hinauf oder weiter hinunter. Am Wochenende oder wenn
Kjell abends nach Hause kam, verbrachten beide, sofern es noch
nicht dunkel war – und das wird es im hohen Norden früh
– viel gemeinsame Zeit im Garten. Es war mehr ein
Steingarten, denn Steine gab es dort viele. Aber zwischen ihnen
gelang es den beiden unter großer Mühe, einige
Kohlrabi, Mohrrüben und eine robuste Sorte Bohnen
anzubauen. Ganz besonders stolz aber waren beide auf einige
Blumenstauden, die erstaunlich kräftig wuchsen. Selbst ein
Fliederbusch hatte es im Schatten des Hauses unter Siljas Pflege
zu beträchtlichem Umfang gebracht. Und so liebte es
Silja, am Sonntag einen kleinen Blumenstrauß zu pflücken,
ihn mit zur Kirche zu nehmen und in einer hübschen Vase vor
das Rednerpult zu stellen. Sie tat diesen Dienst für Gott
und hoffte, er würde sich ebenso wie sie und Kjell über
die Blumen freuen. Es spiegelte sich stets eine gewisse Freude
und Zufriedenheit auf Siljas Gesicht, wenn sie am Sonntag,
nachdem sie die Blumen noch ein wenig geordnet hatte, vom
Rednerpult zu ihrem Stammplatz in der vierten Reihe zu Arne und
Torill, ihren Freunden, zurückging. Torill war heute
etwas aufgeregt, denn sie hatte sich vorgenommen, ein
Glaubenszeugnis zu sagen. Da sie keine große Rednerin war,
hatte sie sich ein paar Notizen gemacht, die sie nun mit
zittriger Hand aus ihrer Tasche holte und kaum abwarten konnte,
dass die "Ruhe für den Herrn" endete. Silja bemerkte ihre
Unruhe und legte ihre Hand auf Torills Hand, die es ihr mit einem
Lächeln dankte. Gerade wollte sie noch etwas sagen, als Odd
Hansen mit seinem Harmonium machtvoll den Beginn des
Gottesdienstes ankündigte. Nach dem Vorspiel wurde er
leiser und leiser, bis dann ganz melodiös und fast zärtlich
die Gemeinde einsetzte: „Din fred skal aldri
svike - Dein
Frieden wird niemals versagen". Sie sangen alle voller
Inbrunst, denn nichts wünschten sie sich an diesem
Sonntagabend mehr, als dass der Friede Gottes tief in ihre
Herzen drang und ihnen Kraft geben würde, die alte Woche
hinter sich zu lassen und mit neuem Mut in die neue zu gehen.
„Wenn uns Stürme treffen, lass uns Schutz finden.",
sang Jonas aus vollem Herzen und versuchte, einen Blick von Linea
zu erhaschen, die etwas verdeckt für ihn vor einer
Holzsäule stand. Aber es gelang ihm nicht. Inger war
sehr ergriffen, denn sie fühlte sich vom Text direkt in
ihrer Not angesprochen: „In
den Stunden der Einsamkeit, im schwersten Moment des Verlustes,
wirst du bei uns bleiben, Herr, in jeder schmerzhafte Sekunde.“
Sie wusste, dass Odd die Lieder für den Gottesdienst
bestimmte, aber es schien ihr, als habe heute Gott dieses Lied
für sie ausgesucht, denn nur er konnte wissen, was sie in
dieser Woche durchgemacht hatte. Gott, so dachte sie, du bist
uns so nah, so überraschend aktuell in jeder unserer
Situationen, ich danke dir dafür. Wie nah und aktuell
Gott in diesem Gottesdienst noch sein würde, ahnte zu
diesem Zeitpunkt weder sie noch irgend ein anderer in der
Gemeinde und so sangen sie aus tiefstem Herzen alle drei
Strophen und es tat ihrer Freude keinen Abbruch, dass dieses
Lied eigentlich bei Beerdigungen gesungen wurde, denn sie waren
der Meinung, dass man als Christ jeden Tag etwas von seinem
alten Menschen zu beerdigen habe.
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20
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Nach
einem weiteren Lied war nun Torill mit ihrem Glaubenszeugnis an
der Reihe. Sie stellte sich hinter das Rednerpult und begann
etwas zögerlich: „Liebe Geschwister, ich möchte
euch heute von Magnus, meinem Sohn, berichten, der ja schon seit
einiger Zeit in Oslo lebt.“ Sie machte eine Pause,
schluckte zwei Mal, denn sie war sehr aufgeregt. Jeder in der
Kirche kannte Magnus. Er stammte aus Torills erster Ehe, die nur
drei Jahre dauerte, dann ertrank ihr Mann auf See und sie musste
sich 20 Jahre lang allein mit Magnus durchschlagen. Später
lernte sie Arne kennen. Die beiden heirateten und Magnus zog
nach Oslo. „Ihr wisst“, fuhr sie fort, „dass
Magnus stets ein Sorgenkind für mich war, auch weil er in
Oslo nur hin und wieder Jobs angenommen hat. Täglich war es
mein Gebet, Gott möge ihm eine feste Arbeitsstelle geben.
Und als Magnus mich vor zwei Wochen anrief und sagte, er sei zum
Vorstellungsgespräch bei einer Einzelhandelsfirma
eingeladen worden, die mehrere Arbeitskräfte suchte, war
ich überglücklich über diesen Anruf und habe
gleich Gott auf den Knien gedankt, dass er meine Gebete erhört
hat.“ Wieder machte sie eine kleine Pause, räusperte
sich, um dann mit fester Stimme fortzufahren: „Aber dann
ruft mich Magnus drei Tage später an, er habe die Stelle
doch nicht bekommen. Es habe zu viele Bewerber gegeben, so dass
die Firma einige auswählen musste. Er war am Boden zerstört
und ich zunächst auch. Aber ich habe verzweifelt um diese
Arbeitsstelle weiter gebetet und Gott bestürmt, doch bitte
ein Wunder zu tun. Was soll ich euch sagen, Gott hat ein Wunder
getan. Schon am nächsten Tag rief Magnus mich an, er habe
die Stelle doch noch bekommen, weil zwei der schon ausgewählten
Arbeitskräfte abgesagt hätten und er auf ihren Platz
nachrücken konnte. Ist das nicht toll?“, fragte
Torill, um sich dann gleich zu verbessern, „Ist Gott nicht
toll?“ - „Amen, danke Gott!“, riefen einige
fröhlich oder „Halleluja“, und als Torill zu
ihrem Platz zurückging, standen Kjell und Silja auf und
umarmten sie kurz, denn sie wussten von Torills Ängsten vor
öffentlichen Reden und wollten ihr Zeigen, sie habe ihre
Sache gut gemacht.
*
Ja,
es waren sehr liebe Menschen, die hier in Lureby in der Kirche
zusammen saßen und ihren Gott lobten.
*
Von
Torills Bericht noch ganz begeistert, stimmte Inger mit ihrer
Gruppe den ersten Lobpreis Chorus an: „Gott ist so gut,
Gott ist so gut, er ist so gut zu mir!“, erklang es
jubelnd in dem kleinen Kirchlein. Es folgte: „Sing
Halleluja“. Dann entstand eine kleine Pause. Inger wandte
sich an die Gemeinde und bezeugte, sie sei durch das Lied "Din
fred skal aldri
svike", das Odd heute morgen ausgewählt habe,
zutiefst angesprochen und gesegnet worden. Es habe ihr in
Hinsicht auf eine schwierige Situation ihresLebens sehr
geholfen! Begeistert setzte der Chor seine Danksagung fort:
„Dir gebührt die Ehre und Anbetung“. Zur
zweiten Wiederholung fiel die Gemeinde mit ein und bei der
dritten sangen alle stehend. „Wir erheben unsere Hände,
wir erheben deinen Nam´“. Und jeder, aber auch jeder
in der Gemeinde fühlte, was er sang und erhob sein Herz und
seine Hände zu Gott.
Als
sie sich wieder setzten, erschraken sie. In der zweiten
Reihe, vorne ganz links, saß jemand, den sie nicht
kannten. Und obwohl sie nicht zu starren versuchten, starrten
sie doch auf diesen fremden Mann, den keiner von ihnen je vorher
gesehen hatte: untersetzt, schwarze, leicht gelichtete Haare auf
einem rundlichen Kopf und kleiner als die meisten von ihnen.
Vielleicht 1,70m groß, trug er – sehr ungewöhnlich
für diese Gegend - einen dunkelbraunen Anzug mit beigem
Hemd und mintgrüner Krawatte. Diese Eleganz befremdete die
einfachen Leute von Lureby etwas. Alle bewegte dieselbe
Frage: Woher kam der Fremde? Wie war er hereingekommen und warum
erschien er erst mitten im Gottesdienst? Wer fährt in
dieser weltfernen Gegend viele Kilometer in eine Sackgasse, um
an deren Ende einen Gottesdienst zu besuchen? Noch ehe sie
sich darüber den Kopf zerbrechen konnten, fragte Ole Einar
– er hatte den Fremden noch gar nicht bemerkt, denn er saß
als Pastor stets in der ersten Reihe direkt vor dem schlichten
silbernen Kreuz – in den Raum hinein, ob jemand einen
Eindruck von Gott erhalten habe. Als weder Eline noch Kari oder
irgend ein anderer nach Vorne kam, drehte er sich zu seiner
Gemeinde um und bemerkte den fremden Mann und damit den Grund
für die mangelnde Resonanz auf seinen Aufruf. Er verbarg
sein Erstaunen, trat ans Rednerpult und begann in gewohnter
Weise: „Der
Herr hat mir für heute eine wichtige Botschaft aufs Herz
gelegt und mir gezeigt, was ich euch heute lehren soll!“
Es folgte eine gut ausgearbeitete und Mut machende Predigt, denn
Ole war der Meinung, man müsse dem strafenden Gott des
Alten stets den liebenden Gott des Neuen Testamentes
gegenüberstellen. So ging es heute um Zachäus, einen
geldgierigen Verräter seines Volkes, der durch die Liebe
Jesu zu einem neuen Menschen wird. Zwar versuchte die
Gemeinde auch an diesem Sonntag aufmerksam seinen Worten zu
folgen, aber dennoch bemerkte Ole, dass sie nicht so an seinen
Lippen klebte, wie sie es sonst zu tun pflegte. Immer wieder
gingen Blicke zu dem fremden Mann und man spürte im Raum
neben dem heiligen Geist auch den Geist der Neugier. Ole
beendete seine Predigt mit den Worten: „Lasst uns in die
neue Woche gehen in der Gewissheit der großen Liebe
unseres Gottes, die sich in der Kraft seiner Vergebung
offenbart. Er will und wird Neues schaffen – auch hier bei
uns in Lureby - und er möge uns seinen tiefen Frieden in
unsere Herzen geben!“ Das war Balsam für Jonas
und Ingers Seele und Knut Hanson musste trotz seiner
Schwerhörigkeit etwas von der Predigt mitbekommen haben,
denn er rief laut: „Amen, Halleluja!“ Nun stand
Anders auf, ging bedächtiger als sonst zum Pult, machte
seine kritischen Anmerkungen zur Predigt, indem er die Gemeinde
darauf hin wies, dass Jesus den Zachäus zwar von der
Geldgier befreit habe, dieser aber dennoch ein Verräter
seinen Volkes, ein Kollaborateur mit
den Römern, geblieben sei, denn in der Bibel stünde
nirgends zu lesen, dass er auch seinen Beruf aufgegeben habe.
Und übrigens dürfe niemand die Liebe Gottes zu uns
Menschen als billige Entschuldigung für seine Sünden
missbrauchen. Einigen in der Kirche war es ein wenig peinlich,
was Anders in seiner Predigtkritik vorbrachte, und sie schauten
immer wieder verstohlen zu dem Fremden hinüber. Der aber
saß weiterhin freundlich lächelnd auf seinem Platz
und schien Gefallen am Gottesdienst zu haben. Lasse, der
Schwede, holte den Klingelbeutel und reichte ihn während
des Vorspiels zum Abschlusslied herum. Wie sich später
herausstellte, hatten einige beobachtet, dass der fremde Mann
den Beutel an sich vorbeigehen ließ, ohne etwas
hineinzutun. Ja, den Leuten von Lureby blieb nichts
verborgen. Aus vollem Herzen sangen sie noch das Segenslied:
„Herr, wir bitten, komm und segne uns!“ und erhoben
sich von ihren Plätzen. Ole segnete seine Schar. Nach der
„Stille für den Herrn“ strömte man zum
Kaffeetrinken und zum Büchertisch, nicht ohne hin und
wieder einen Blick auf den Fremden zu werfen. Der legte gerade
das Liederbuch zurück auf die Bank und wandte sich dem
Mittelgang zu, als Ole auf ihn zutrat und ihm zur Begrüßung
die Hand reichte. Sie sahen, wie die beiden offenbar einige
Worte wechselten. Und sie sahen mit Schrecken, dass Ole
plötzlich die Arme sinken ließ, kreidebleich wurde
und sich an der Kirchenbank festzuhalten versuchte, während
der Fremde freundlich lächelnd nach links und rechts
grüßend, die Kirche verließ. Ole stand immer
noch wie angewurzelt in der zweiten Bankreihe und klammerte sich
an die Banklehne. Schweiß stand auf seiner Stirn, er
begann zu schwanken und sich langsam auf die Kirchenbank
niederzulassen. Besorgt liefen seine Schäfchen zu ihm, denn
noch nie hatten sie ihren Pastor in einem solchen Zustand
gesehen. Sie sammelten sich im Kreis um ihn herum und jeder
wollte wissen, was geschehen war.
Nur mühselig
brachte es Ole heraus: „Ich habe ihn gefragt, wer er ist
und was ihn in diese einsame Gegend verschlagen hat.“ Ole
fiel es sichtlich schwer weiterzusprechen. „Was hat er
gesagt, komm, sag es uns. So schwer kann es doch nicht sein“,
riefen Eline und Kari ungeduldig. Auch andere bedrängten
ihn. Endlich brachte Ole es heraus. „Er hat gesagt, er sei
Gott und er wolle hier seine Kinder besuchen.“, stammelte
er. Erschrocken setzten sich einige. Als erster fing sich
Jonas, klopfte Ole auf die Schulter und lachte laut los: „Also
der Kerl heißt wahrscheinlich mit Nachnamen „Gott“,
rief er, „Es gab da mal so einen tschechischen Sänger,
der hieß so, und wer weiß, vielleicht sind ja die
Heiden seine Kinder.“ - „Oder er ist ein ein Atheist
und hat sich einen Spaß mit dir gemacht, Ole. Nimm es
nicht so ernst“, meinte Arne. "Es gibt komische
Leute!" - „Wie ein Spaßvogel sah der eigentlich
nicht gerade aus in seinem schicken Anzug“, warf Sofie
ein, „und beim Rausgehen hat er ganz freundlich gelächelt.
Also ich fand ihn eigentlich ganz nett.“ - „Aber wie
ist er überhaupt hereingekommen? Hat einer von euch etwas
bemerkt?“, schaltete sich Kjell ein, „dieses
plötzliche Erscheinen war doch schon etwas merkwürdig,
oder?.“ - „Und wenn es doch Gott war?“, gab
Rafna zu bedenken. „Nie und nimmer!“, riefen Eline
und Kari wie aus einem Mund, „so sieht Gott nicht aus!
Niemals! Wir haben ihn schließlich schon oft im Geiste
gesehen!“ So diskutierten und gestikulierten sie alle eine
Weile durcheinander, bis Ole all dem mit ungewöhnlich
scharfer und lauter Stimme ein Ende setzte. „Ruhe!“,
brüllte er. Er war aufgestanden. Sie hatten ihn ganz
vergessen, so sehr waren sie mit ihren Vermutungen beschäftigt.
„Seid endlich still, einfach nur still und merkt, was ich
euch als euer Pastor sage: Es w a r G o t t !“ Sie
erschraken und verstummten zugleich. Und zum Beweis seiner
Aussage hob Ole seine rechte Hand und öffnete sie. Zum
Vorschein kamen zwei kleine miteinander verbundene
Bügelschlösser. Sie waren rostig braun, schlüssellos
und offenbar seit Jahren nicht benutzt worden. Ole atmete schwer
und sagte mit belegter Stimme: „Diese Schlösser haben
meine Frau und ich vor vielen Jahrzehnten auf einer Fahrt mit
der Fähre nach Bergen als ewig andauerndes Zeichen unserer
Liebe vor Alesund ins Meer geworfen.“ Ole musste sich
wieder setzen. Seine Knie zitterten, denn ein leichter Schwindel
hatte ihn ergriffen.
Keiner wagte es etwas zu sagen, ihre
Gedanken waren ein einziges Auf und Ab, sie standen verloren wie
ein Häuflein verstörter, hilfloser Schäfchen in
ihrer kleinen Dorfkirche, die ihnen so oft Schutz und Frieden
geboten hatte, nun aber zu einem Ort der Unsicherheit und des
Erschreckens geworden war. Konnte das wirklich Gott gewesen
sein? Wie sonst kamen die Liebesschlösser vom Meeresgrund
in Oles Hand? Endlich - niemand wusste so genau, wie viel
Zeit vergangen war - bat Ole darum, man möge ihn nach Hause
bringen, er müsse über die ganze Sache nachdenken und
würde sich bei ihnen melden. Und er schärfte ihnen
ein, dass niemand, aber bitte wirklich niemand irgend jemandem
von diesem Ereignis berichten solle. Sie gingen dann wie
betäubt ein jeder in sein Zuhause und taten, worum er sie
gebeten hatte.
*
Denn
wie sollten es diese einfachen Menschen von Lureby auch
begreifen: Gott war heute bei ihnen im Gottesdienst gewesen.
*
In
seinem Arbeitszimmer fiel Ole auf seine Knie und fragte Gott im
Gebet: „Bist du es gewesen Herr?“ Und der Herr
antwortete ihm: „Ja, ich war es!“ So oft Ole auch
fragte, er bekam stets die gleiche Antwort. Nie war eine Antwort
Gottes so klar und unmissverständlich ausgefallen wie
heute. Alles drehte sich in Oles Kopf und es fühlte sich
für ihn an, als wäre aller Verstand und jede Kraft von
ihm gewichen. Vor ihm lagen die beiden verbundenen Schlösser.
Woher sollten sie sonst kommen? grübelte er. Hatte er
damals vielleicht jemandem von der Sache erzählt und der
würde ihm nun einen Streich spielen? Und warum
antwortete Gott ihm so prompt im Gebet? Wie oft hatte er
Antworten von Gott erfleht, aber keine bekommen. Dieses Ereignis
überstieg seinen Verstand und auch seinen Glauben.
Schlaf
konnte er in dieser und den nächsten Nächten nicht
finden, er fühlte sich leer, hilflos und zerschlagen. Frage
um Frage jagte durch seinen Kopf. Warum kam Gott ausgerechnet
hierher in die Einsamkeit des Nordens? Warum jetzt? Warum zu
ihnen? Warum hatte er so wenig gesagt? Was waren Gottes
Absichten? Er fand keine Ruhe und erst nach und nach, wenn er an
die Freundlichkeit dieses kleinen Mannes dachte, wuchs sein
Vertrauen wieder. Wie man das Geschehen auch drehte und
wendete, eines blieb klar: Gott selbst hatte sie in ihrer
Gemeinde in Lureby besucht. Die Frage war nur, würde er
wiederkommen? Gerne hätte Ole mit einigen anderen weiter
weg wohnenden Pastoren über diese Sache gesprochen, aber
das war ja nicht möglich. Hätte ihn nicht jeder für
krank im Geiste gehalten, wenn er von seinem Erlebnis berichten
würde? Selbst, wenn man seinen Worten Glauben schenken
würde, wäre ihm nicht geholfen, denn dann würden
die Christen am nächsten Sonntag zu Tausenden aus dem Süden
anreisen und es wäre vorbei mit dem Frieden in der kleinen
Gemeinde von Lureby. Er erinnerte sich an eine Gemeinde in Oslo,
in der es einige spektakuläre Heilungen gegeben hatte. Aus
ganz Norwegen waren die Leute angereist, um auch geheilt zu
werden oder wenigstens dabei zu sein, wenn andere gesund wurden.
Eine riesige angemietete Fabrikhalle reichte damals nicht aus,
die vielen Gläubigen zu beherbergen. Solche Hallen gab es
in Lureby gar nicht und es war Ole sofort klar, vor einem
solchem Ansturm müsse er seine Gemeinde schützen.
Niemand dürfe wissen, dass Gott bei ihnen in Lureby im
Gottesdienst gewesen war. Als aber seine Unruhe nicht
nachließ, griff Ole zum Telefon um Anders anzurufen und
ihn zu fragen, was er von der Sache halte. Anders sagte ihm,
er und seine Frau Bjorg könnten immer noch nicht glauben,
was da geschehen sein soll und sie stünden der ganzen Sache
skeptisch gegenüber, denn sie sei höchst unbiblisch.
Nirgendwo in der heiligen Schrift stehe zu lesen, dass Gott
jemals sichtbar bei Menschen auf der Erde auftauchen würde,
außer vielleicht in Jesus Christus, aber das sei ja über
2000 Jahre her. Nicht einmal im Buch der Offenbarung gäbe
es einen Hinweis auf ein Erscheinen Gottes im Norden der Erde.
Ganz
im Gegenteil spräche die Bibel eher von einem Verbergen
Gottes, z.B. sagt Gott im 2.Mose 33:20: >Du kannst mein
Gesicht nicht sehen, denn kein Mensch kann mich sehen und am
Leben bleiben.< Und
in 1.Johannes 4:12 heißt es: >Niemand hat Gott je
gesehen< und im Timotheusbrief 1:17 wird Gott als >der
König
der Ewigkeit, der unvergängliche,
unsichtbare,
alleinige
Gott< bezeichnet. Mit „unsichtbar“ sei doch alles
gesagt, behauptete Anders. „Ich weiß nicht“,
entgegnete Ole, „ in der Bibel steht doch auch „Und
der HERR erschien ihm (Abraham) im Hain von Mamre >….als
er seine Augen aufhob, siehe, da standen drei Männer vor
ihm.< 1.Mose 18:1-3 Da hat Gott doch mit Abraham gesprochen
und sogar mit ihm gegessen. Gott kann eben jede Gestalt
annehmen; bei Abraham sah er aus wie drei Männer und hier
bei uns wie ein freundlicher älterer Herr!“ - „Nein
Ole, das siehst du falsch, Gott ist Abraham in drei
Engelsgestalten erschienen, sonst würden ja die anderen
Bibelworte nicht stimmen.....“ Ja, Anders hatte eine
große Bibelkenntnis, aber die war in diesem Fall nicht
besonders hilfreich.
Und
so wie Ole und Anders erging es den übrigen Gotteskindern
in Lureby auch. Es wurde diskutiert, gestritten, vermutet und
gebetet, wie schon lange nicht mehr. Der Frieden war von dem
kleinen Ort gewichen, nein, nicht von den Heiden, denn die
wussten ja nichts von Gott. Jedem fiel sein Tagwerk in dieser
Woche schwer. Immer wieder kreisten die Gedanken darum, ob das
Unglaubliche wahr sein und sich am nächsten Sonntag
wiederholen würde.
*
Besonders
schwer hatte es Jonas. Er sah im Erscheinen Gottes die logische
Fortsetzung dessen, was er schon nach der Achan-Geschichte
empfunden hatte, an deren Ende Gott ganz plötzlich mit
Josua spricht und die Aufdeckung von Achans Sünde
einleitet. Und nun war Gott ganz persönlich nach Lureby
gekommen, um vor der ganzen Gemeinde seine, Jonas, Sünde
aufzudecken. Er fühlte sich alleingelassen, völlig
verloren, wie gelähmt und war nicht imstande, irgend etwas
an seiner Situation zu ändern. Mit wem sollte er auch
darüber reden, ohne sich und Linea zu verraten? Und auch
mit ihr war ein Gespräch nicht möglich, wollte er sie
nicht mit seinen Befürchtungen belasten. Sie sah die Sache
ja offenbar anders. Wie groß musste seine Sünde sein,
dass Gott selbst nach Lureby kam , um seine Gemeinde von ihr zu
reinigen. Er war überzeugt, der Herr würde am nächsten
Sonntag wieder im Gottesdienst sein und dann alles ans Licht
bringen. Und so rief er am Freitag Abend Ole an und sagte, er
könne am Sonntag nicht zum Gottesdienst kommen, er fühle
sich schlecht – was ja im doppelten Wortsinn auch stimmte
– und er würde zu Hause bleiben.
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30
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Etwas
verwundert war Ole, dass sich auch Arne, sein Ältester, und
Torill, seine Frau vom Gottesdienst abmeldeten. Beide hatten
schon länger miteinander über die Lieder gesprochen,
die sie Sonntag für Sonntag in der Gemeinde sangen. „Ich
lieb dich, Herr, keiner ist wie du“ oder „ich habe
noch nie eine Liebe, wie die deine gefunden.“ Ehrlich, wie
die beiden nun einmal waren, stellten sie fest, dass eine so
gewaltige Liebe sie nicht mit Gott verband. Sie hatten sich
untereinander sehr lieb, ebenso Magnus, Torills Sohn, und
natürlich auch ihre Gemeinde, aber ihre Liebe zu Gott war
irgendwie anders, unwirklicher, weniger intensiv und eher
abstrakt. So wollten sie, falls Gott wieder in den Gottesdienst
käme, ihm nicht etwas aus lauter Gewohnheit vorsingen, was
nicht der Wahrheit entsprach.
Nein,
Gott ins Gesicht lügen wollten sie beide ganz und gar
nicht. Es war schon schlimm genug, es in der Vergangenheit oft
getan zu haben. So entschlossen auch sie sich, lieber daheim zu
bleiben. Ole wusste nicht recht, was er davon halten sollte.
*
Noch
anderer Art waren die Probleme die das Erscheinen Gottes bei
Kjell und Silje ausgelöst hatte. Am Donnerstag schon
bemerkte Kjell, dass Silje seinen alten, seit vielen Jahren
nicht mehr getragenen Anzug zum Lüften vor das Haus gehängt
hatte. „Soll ich den am Sonntag etwa anziehen?“,
maulte er, „du weißt genau, ich hasse es, mich mit
einem Anzug zu verkleiden. Gott sieht nicht auf unser Äußeres,
das ist ihm gleich, er sieht das Herz an!“ - „Wie
schön du das gesagt hast, mein lieber Mann, aber hast du
gesehen, was Gott am Sonntag an hatte?“, erwiderte Silje,
„Sein Anzug war nicht von schlechten Eltern, und obwohl
ich noch gar nicht wusste, dass der Besucher Gott war, habe ich
mich vor dem Fremden geschämt, dass wir alle so mit unseren
Alltagssachen da saßen. Als ob es bei uns nichts anderes
gibt als Norwegerpullover!“ Kjell wollte etwas einwenden,
kam aber nicht zum Zug, denn Silje fuhr fort: „Und was
hattest du an, mein lieber Mann, als sie dir in der Kreisstadt
den Fischereiorden verliehen haben? Einen Norwegerpullover?
Nein, ihr Fischer habt euch schön herausgeputzt, als der
Fischereimeister euch den Orden überreichen sollte. Und nun
frage ich dich, ist Gott etwa weniger wert als ein
Fischereimeister?“ Es half nichts, wohl oder übel
musste Kjell am nächsten Sonntag einen Anzug anziehen,
damit er nicht zu sehr von seiner Frau abstach, die noch ein
Festtagskleid im Schrank gefunden hatte, in das sie zwar nicht
mehr so ganz hineinpasste, aber es schien ihr für den
Anlass allemal besser geeignet zu sein als ihre Alltagskleidung.
Nein, Gott sollte sich, wenn er denn käme, wohlfühlen
in ihrer Gemeinde auch, was die Kleidung betraf.
*
Rafnas
und Sussu Probleme waren ähnlich. Wenn Gott jetzt
vielleicht noch einmal oder gar des öfteren in ihre Kirche
kam, wollten sie ihre Samitracht anlegen, wunderschöne,
sehr teure Kleidungsstücke, die einen Teil ihrer Kultur
ausmachten. Sie fühlten sich als Botschafterinnen ihres
Volkes und wollten so Gottes Aufmerksamkeit erregen. Sie
wünschten sich sehnlichst, dass er käme und ihre
Tracht bewundern würde. Dass Gott sie weiterhin besuchen
würde, wünschte sich auch Odd Hansen. Er schämte
sich zwar ein wenig des alten Harmoniums und seines mangelhaften
Spiels, aber Gottes Herz war in seinen Augen groß und
weit, ER würde daran gewiss keinen Anstoß nehmen. Und
so plante er etwas ganz Besonderes. Wenn Anders am Sonntag den
Lobpreis wieder mit der Gitarre begleitete, würde er die
Melodie von >Alles will ich Jesus weihen< auf der Fadno
spielen, dem einzigen samischen Melodieinstrument. Es wird aus
dem grünen Stengel des Engelwurzes geschnitten und hat nur
eine Lebensdauer von wenigen Tagen. Von welchem Musikinstrument
dieser Welt könne man das schon sagen? Odd war stolz, Gott
einen so seltenen Kunstgenuss bieten zu können, denn nur
wenigen war es vergönnt, ein solches Instrument bauen und
dann auch noch spielen zu können Er beschaffte sich einen
Engelwurzstengel, schnitzte ihn zu einer etwa 40 cm langen Flöte
und begann zu üben. Gott würde begeistert sein.
*
Am
Samstag hatte Ole seine Predigt immer noch nicht fertig. Für
ihn war ganz klar, wenn Gott in seiner Kirche saß, dann
müsse Gott auch predigen. Was habe er, Ole, der Gemeinde
auch schon zu sagen? Nein, Gott ist nun mal unser Herr und ihm
sollen wir zuhören und nicht einem einfachen Prediger wie
mir, dachte er. Zumindest müsse er Gott anbieten, das Wort
zu ergreifen. Aber was wäre, wenn Gott zu ihm sagen würde,
mach du mal Ole Einar Björndalen? Dann konnte er doch nicht
unvorbereitet sein. Aber worüber nur predigt man in
Anwesenheit Gottes? Immer wieder in den letzten Jahren hatte er
mit seinen Predigtthemen gerungen und Gott hatte ihm gute
Gedanken, Impulse und Anstöße gegeben, aber was hatte
er jetzt unter diesen Umständen seiner Gemeinde zu sagen?
Waren die guten Gedanken vergangener Sonntage wirklich Gottes
Gedanken gewesen? Oder hatte er s e i n e Gedanken zu Gottes
Gedanken gemacht? Wie konnte er sich anmaßen, vor Gott
hinzutreten und Sätze zu sagen wie: „Der Herr hat mir
gezeigt“ oder „Gott will, dass wir das und das tun“
oder „Gott hat mir dabei geholfen, dass...“ oder
„Ich weiß, dass das und das Gottes Wille ist.“?
Woher wusste er, Ole Einar Björndalen schon, was Gott will,
denkt oder fühlt? Aus dem Wort Gottes? Durch den Heiligen
Geist? Aber dann müssten ja alle Kirchen und Gemeinden den
gleichen Glauben haben und nicht irgendeine Interpretation
davon. Und unvermittelt kam ihm auch noch Hebräer 13:17 in
den Sinn, wo davon die Rede ist, dass die Pastoren über die
Seelen
der ihnen Anvertrauten wachen sollen und „dafür
Rechenschaft geben müssen". Ob Gott gleich nach dem
Gottesdienst Rechenschaft von ihm verlangen würde? W o
r ü b e r nur sollte er predigen? Würde eine Predigt
über einen strafenden Gott diesen beleidigen? Und wäre
eine Predigt über Gottes vergebende Liebe nicht genau so
angreifbar, wenn
Gott eben nicht alles so folgenlos vergibt, wie Menschen es
gerne glauben? Ole machte, was er immer in seinem Leben tat,
wenn er mal nicht weiter wusste. Er ging auf seine Knie und
betete. Er rang mit sich und mit Gott und beendete schließlich
das Gebet mit dem Satz: „Ich danke dir Gott, dass du mir
hilfst.“ Als er sich erhob und an den Schreibtisch setzte,
wusste er, was er für den kommenden Sonntag vorbereiten
würde: eine Predigt über die Dankbarkeit, die wir
Menschen der Hilfe Gottes schulden. Das schien ihm eine
unverfängliche Botschaft zu sein, gegen die Gott gewiss
nichts einzuwenden habe, dachte sich Ole Einar.
*
Eline
und Kari hingegen waren tief enttäuscht von dem angeblichen
Besuch des HERRN in ihrer Kirche. Sie hatten in so vielen
Visionen Jesus und Gott auf dem Thron geschaut, aber so wie der
Fremde in der Kirche hatte weder Gott noch sein Sohn jemals
ausgesehen. Jesus war in ihren Augen ein schlanker, großer
Mann mit lieben braunen Augen, die immer lächelten. Er
besaß schulterlanges wallendes Haar und trug ausladende
Gewänder. Gott selbst war ein älterer Bartträger,
liebevoll, majestätisch aber dennoch gütig. Sie hatten
vor Jahren einen Film über Jesus gesehen und seitdem
verehrten sie beide in ihren Visionen und Träumen einen so
gut aussehenden Jesus, wie ihn der Titelheld des
Filmes verkörpert hatte. Anders hatte mal als Reaktion
auf eine ihrer Visionen gesagt, in der Bibel stünde in der
Prophezeiung des Jesaja 53,2 über Jesus: >Er hatte keine
Gestalt noch Schöne; wir sahen ihn, aber da war keine
Gestalt, die uns gefallen hätte.< Diese Verse hatten
ihnen gar nicht gefallen und sie hatten sie so schnell wie
möglich wieder verdrängt. Da sie beide keinen Partner
hatten, gaben sie sich besonders in der Lobpreiszeit ganz der
Verehrung dieses gut aussehenden Jesu hin, aber nicht einem
Gott, der klein, rundlich und ganz und gar nicht majestätisch
war. Ja, sie stritten darüber, ob man so einen gewöhnlichen
daherkommenden Gott im Lobpreis überhaupt anbeten könne.
Eline fürchtete, wenn sie in Zukunft immer diesen kleinen
Fremden vor ihrem inneren Auge sähe, würde das bei ihr
jede Lobpreisstimmung zerstören. Kari hingegen meinte, sie
dürften sich nicht so sehr von menschlichen Gefühlen
und Gedanken leiten lassen. Ihr Problem sei viel mehr, dass sie
der Gemeinde Jahr für Jahr Visionen und Botschaften von
Gott übermittelt hätten und nun stellte sich heraus,
dass Gott ganz anders aussieht als in ihren Visionen. Und was
wäre, wenn ihre Botschaften ebenso falsch wie ihr
Gottesbild gewesen waren? Das sei so peinlich, jammerte sie, sie
wolle ihren Geschwistern in der Gemeinde erst einmal nicht mehr
unter die Augen treten. So beschlossen auch die Schwestern,
am nächsten Sonntag zu Hause zu bleiben. Als sie sich bei
Ole abmeldeten, vereinbarten sie gleich einen Termin für
ein seelsorgerliches Gespräch in der kommenden Woche. Ole
wusste gar nicht, wie ihm geschah, hatten sich nun schon fünf
seiner Schäflein vom nächsten Gottesdienst abgemeldet.
Das kam sonst nur vor, wenn im Winter das Fieber der Erkältung
den einsamen Ort heimsuchte. Gut, dass schon morgen Sonntag
ist, wer weiß, wer sonst noch alles daheim bleiben würde,
dachte er und ging in die Küche, um sich Wasser für
einen Tee aufzusetzen.
*
Am
nächsten Tag machte sich Ole zeitig auf, um in die Kirche
zu eilen. Er fühlte sich, als ginge er zu einer wichtigen
Prüfung. So klopfte sein Herz und seine Hand zitterte, als
er die alte Kirchtür öffnete. Das Harmonium, auf
dem Odd übte, jubelte ihm entgegen: „Min Jesus, lad
mit hjerte få...“ (Mein Jesus, lass mein Herz dich
schmecken...). Ole blieb erschrocken stehen und sah sich
verwundert um. So hatte er seine Gemeinde schon lange nicht mehr
gesehen: Alle saßen bereits auf ihren Plätzen und
waren festlich wie zu einer Hochzeit gekleidet, außer
Lasse, der Schwede, der ausgerechnet heute einen
Norwegerpullover trug, obwohl er ja ein Schwede war. Raffna und
Sussu hatten ihre samische Tracht angelegt und alle Männer,
außer eben Lasse, trugen Anzüge, die ihnen zwar nicht
perfekt passten, aber schön anzusehen waren und viel zur
feierlichen Stimmung beitrugen. Einige drehten sich
erwartungsvoll um, als sie Ole die Kirche betreten hörten
und wandten sich enttäuscht wieder ab, als sie bemerkten,
dass es nur ihr Pastor war, der hereingekommen war. Ole
schaute auf seine Uhr, gab Odd ein Zeichen und der setzte
pünktlich mit dem Begrüßungschoral ein. Zunächst
erklang das Vorspiel, dann der Gesang, nicht so brausend und
kräftig wie sonst, schließlich fehlten ja die fünf
Stimmen der Daheimgebliebenen. Hin und wieder schauten einige
zur zweiten Bankreihe hinüber, aber sie war leer. ER war
nicht da. Ob ER kommen würde? Die Herzen in Lureby schlugen
höher als sonst. Sie fürchteten sich ein wenig vor
dem, was passieren könnte, wünschten es aber
gleichzeitig sehnlichst herbei, so wie man sich vor dem Feuer
fürchtet, aber die Blicke nicht von dem brennenden Haus
wenden kann. In der vierten Strophe des Eingangschorals
sangen alle aus ganzem Herzen: „Führe mich armen
Sünder heim nach deiner Gerechtigkeit zu deinem neuen
Jerusalem, zu all deiner Herrlichkeit!" Bei „neuem
Jerusalem" gab das Harmonium kurz einen knarzenden Ton von
sich, alle schauten erschrocken zu Odd, der aber unbeirrt
weiterspielte. Als sie wieder zum Altar blickten, erschraken
sie.. In der zweiten Reihe, links außen, saß
Gott. Und wie vor einer Woche drehte er sich halb zu ihnen um,
lächelte, nickte ihnen zu und schaute dann wie sie nach
vorn zum Altar offenbar in Erwartung eines segensreichen
Gottesdienstes. Ole zweifelte, ob heute unter diesen
Umständen jemand ein Glaubenszeugnis sagen würde und
war erstaunt, als Odd Hansen seinen Platz an der Orgel verließ
und nach vorne schlurfte. Obwohl er blind war, kannte er jeden
Durchgang, jede Bankreihe und Stufe in der Kirche genau und fand
ohne jemandes Hilfe das Rednerpult. Die Spannung in der Kirche
wuchs, denn alle fragten sich, was er zu sagen habe. Wusste er
überhaupt, dass Gott schon gekommen war? Wie sollte er es
wissen, da er doch blind war? Odd begann: „Liebe
Geschwister, wie ihn wisst, hat Inger uns am letzten Sonntag
erzählt, ein Lied, das ich ausgewählt habe, sei ihr
zum großen Segen geworden. Mich hat das sehr erfreut, denn
eine derartige Rückmeldung bekommt man nicht so oft."
Wie meint er das mit den Rückmeldungen, dachten einige, war
das Kritik an der eigenen Gemeinde in Gottes Anwesenheit? Wie
unangenehm! Aber Odd fuhr schon fort: „Manches Mal weiß
ich gar nicht, welche Lieder ich heraussuchen soll, welche
gerade die richtigen und wichtigen für euch sind, und Gott
hilft mir auch nicht immer dabei." Ein Räuspern ging
durch die Gemeinde, und Odd machte eine kleine Pause, bevor er
den letzten Satz vollendete „aber am letzten Sonntag hat
er geholfen. Das Lied, das Inger so erbaulich fand, war aus
einem Stapel Notenblätter gerutscht und so habe ich es
einfach zu denen gelegt, die ich zum Singen für uns
herausgelegt hatte. Gott hat es ausgesucht und Inger wurde
gesegnet, dafür sei IHM Dank gebracht!", rief er und
merkte noch an: „Ihr wisst, dass mir Erweckung stets auf
dem Herzen liegt. Ich bete schon so lange und weiß nicht,
ob Gott meine und unsere Gebete erhören wird. Aber wir
sollten die Heiden nicht vergessen." Sprach`s und schlurfte
zu seinem Stuhl zurück. Die Gemeinde saß wie gelähmt.
Kritik im Angesicht Gottes? Einige hatten bei Odds Worten zu
Gott hinüber geschaut, aber der lauschte freundlich
lächelnd dessen Ausführungen. Aber es beruhigte
sie, dass sich jetzt Inger und der Chor erhoben. Musik ist ja
viel unverfänglicher, als Worte es sein können,
dachten sie. Andres und Odd nahmen ihre Instrumente und begannen
mit dem Vorspiel. Gitarre und Fadno zusammen zu hören, war
auch für die Leute in Lureby immer wieder ein Genuss. Dann
setzte der Chor
ein: „Alles will ich Jesu weihen, meines Geistes beste
Kraft. All mein Denken, all mein Streben, alles, was mein
Tagwerk schafft. Alles will ich weihen!" Bjorg, Anders
Frau, war verunsichert. Was singe ich da, schoss es ihr durch
den Kopf, da vor mir sitzt Gott, schaut mich an und ich
verspreche ihm ins Gesicht, ich würde ihm meines Geistes
beste Kraft weihen. Spontan hörte sie auf zu singen. Wann
bitte tue ich das? Etwa wenn ich mit meiner Freundin Torill über
den neuesten Klatsch rede oder wenn ich mir abends einen
Liebesfilm im Fernsehen ansehe? Und das Schaffen meines Tagwerks
gilt doch allein mir und Anders, es dient unserem Broterwerb wie
bei jedem anderen Menschen auch. Also was weihe ich da Jesus
oder habe es ihm geweiht? Und so wie Bjorg erging es auch
Torill und offenbar einigen anderen. Sie hatten ihre
Schwierigkeiten mit diesem Lied. So sangen sie zögerlicher
als sonst, unkonzentrierter und wurden leiser und leiser. Als
Dirigentin versuchte Inger ihre Schar anzufeuern, aber die sang
nur unsicher weiter: „Dass
ich nur voll Geistes werde, allen Eigenlebens bar; Glanz und
Güter dieser Erde, fahret hin für immerdar." Sie
spürten, dass keiner von ihnen das je in seinem Leben
verwirklicht hatte oder hatte verwirklichen wollen: Sie kannten
sich in Lureby seit Jahren und niemand von ihnen hatte die
Absicht, seine eher bescheidenen Güter zu verkaufen und das
Geld dem Herrn zu geben. Vor Jahren war mal ein Bruder aus
Bergen bei ihnen zu Besuch gewesen und hatte berichtet, dass
zwei Familien in Deutschland, in Hamburg, ihre Häuser
verkauft und von dem Geld eine Kirche gebaut hätten. Diese
habe Gott, der Herr, dann mit Menschen gefüllt und sie habe
heute über 800 Mitglieder. Sie hatten diese Geschichte
großartig gefunden und waren sehr ergriffen von der
kleinen Erweckung im fernen Hamburg. Aberso zu handeln, schien
ihnen doch etwas extrem zu sein. Und extrem wollten sie auf gar
keinen Fall sein, darin waren sich die Leute in Lureby schon
damals einig gewesen. Aber gerade deswegen war es ihnen jetzt
nicht möglich, unmittelbar vor Gott zu stehen und ihm das
Gelübbte, ihm alles weihen zu wollen, zuzusingen. Das wäre
doch eine Lüge! Mühevoll, mit zittrigen Stimmen
erreichten die Sänger des Kirchenchores das Ende der
vorletzten Strophe. Ihre Stimmen verebbten und mitten in der
letzten Strophe sangen sie unter dem Druck ihres Gewissens nicht
weiter, ganz gleich wie entsetzt Inger sie anstarrte und welche
Zeichen sie ihnen gab. Es ging einfach nicht und sie
verstummten. So mussten Odd und Andres spontan die Situation
retten, indem sie die letzte Strophe instrumental spielten. Der
nächste Chorus hieß „Komm in unsere Mitte oh
Herr!“ Dieses Lied schien ihnen unverfänglicher,
neutraler zu sein; nur Anders fürchtete, dass es für
diesen Gottesdienst ganz und gar nicht passte, denn Gott sei ja
schon da. Überhaupt sei das Lied, seiner Meinung nach,
kompletter Unsinn, denn Gott sei überall.anwesend, wo zwei
oder drei sich in seinem Namen versammeln würden. Ihn extra
einzuladen, zeige nur den Unglauben der Sänger.
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40
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Es
folgte ein Lieblingschorus der Gemeinde: „Dir gebührt
die Ehre und Anbetung, wir erheben unsere Hände, wir
erheben deinen Nam´", an dieser Stelle schauten
gewohnheitsmäßig alle nach oben und erhoben ihre
Hände und Augen zum Kirchendach in der Meinung, Gott würde
ja vom Himmel auf sie herabschauen und sie wollten ihm entgegen
jubeln. Als dieser Liedtext nahte, schüttelte Inger heftig
den Kopf, um der Gemeinde ein Zeichen zu geben, dass dies heute
die falsche Blickrichtung sei, daher ließ sie Hände
und Augen gesenkt, drehte sich demonstrativ um und streckte ihre
Arme dem kleinen Mann in der zweiten Bankreihe entgegen. Das war
zwar folgerichtig, brachte aber die verunsicherte Gemeinde
vollends durcheinander. Einige verstanden nicht und hoben die
Hände zur Kirchendecke. Andere taten es Inger gleich und
streckten sie Gott entgegen, wieder andere ließen sie
lieber verzweifelt sinken, denn sie wussten gar nicht mehr, was
sie tun oder denken sollten. Wie anstrengend es doch ist, Gott
im Gottesdienst zu haben, dachten sie und waren froh, als sie
das Lied bis zum Ende gesungen hatten und sie sich setzen
konnten.
Ole
atmete dreimal schwer, erhob sich dann, ging hinüber zur
zweiten Bankreihe und fragte Gott leise, ob er nicht selbst zu
ihnen sprechen wolle. Es sei doch seine Gemeinde und sie alle
wären gespannt auf das, was er ihnen zu sagen habe. Aber
Gott schüttelte den Kopf und antwortete ihm ebenso leise: „
Mach
du mal, Ole Einar Björndalen. Es ist schon richtig, was du
vorbereitet hast!“ So
ging Ole verzagt und viel langsamer als sonst zum Pult und las
Worte aus dem Lukasevangelium 17, die Verse 11-19. Dort findet
sich die Geschichte von den zehn Aussätzigen, die Jesus
geheilt hat, von denen aber nur einer zu ihm zurückkehrte,
um sich zu bedanken. Ole schaute in seine Gemeinde, atmete tief
und begann: „Für heute habe ich ein Wort aus der
Schrift herausgesucht...“ Irritiert sahen sich einige an
und fragten sich, warum er nicht wie seit über 15 Jahren
sagte: „Der
Herr hat mir für heute eine gute Botschaft aufs Herz gelegt
und mir gezeigt, was ich euch heute lehren soll!“ Was war
los mit Ole? „Ein Wort“, fuhr dieser fort, „das
herausfordert, uns ihm zu stellen. Dankbarkeit ist so wichtig,
aber praktizieren wir sie?“ Und er zeigte an Beispielen
aus der Schrift Menschen, die Gott Dankbarkeit schuldeten:
Zachäus, die Frau am Jakobsbrunnen, Bartimäus, das
blutflüssige Weib, der Mann am Teich von Siloah und der
Gichtbrüchige. Es war mucksmäuschenstill in der
Kirche, denn Oles Anspannung ging auf seine Zuhörer über,
die nach und nach begriffen, in welcher Situation sich ihr
Pastor befand und somit auch verstanden, warum Ole heute jedes
Wort vom Manuskript ablas und nicht wie sonst frei sprach. Wie
schwer müsse es doch für ihn sein, eine Predigt vor
Gottes Augen zu halten, bemitleideten sie ihn.
Aber
Ole hielt sich wacker. Sein Herz klopfte zwar zum Zerspringen,
denn es fühlte sich für ihn so an, als würde
jedes seiner Worte auf die Goldwaage gelegt werden, und er war
heilfroh, als endlich das „Amen“ kam, dem er noch
den Satz hinzusetzte: „Wenn jemand etwas ergänzen
möchte, dann möge er es jetzt tun.“ Ganz
still saß die kleine Gemeinde da, Sussu sah verstohlen zu
Anders, doch der rührte sich zunächst nicht. Unter dem
Druck des Schweigens stand er schließlich auf, ging nach
vorne und sagte mit fester Stimme, die Bibel in seiner Hand
haltend: „Ja Geschwister, ich gebe Ole recht, wir sollten
viel dankbarer sein für das, was Gott uns gibt. Wenn wir
Gott mit dankbarem Herzen anbeten, dann wohnt er sogar im
Lobpreis seiner Kinder, wie die Heilige Schrift in Psalm 22 Vers
4 sagt.“ - „Er gibt Ole recht, seit wann tut er das
denn?“, flüsterte Thor seiner Frau Torill zu, die
fragend die Schultern hob. Nichts aber auch nichts war an
diesem Sonntag so, wie sonst, Alle Fröhlichkeit, alles
Gottvertrauen, alle Sangeslust schien verflogen zu sein,
stattdessen machte sich eine große Angespanntheit breit.
Alle sahen in ihrer schicken Kleidung ganz verändert aus,
aber das war nicht die einzige Veränderung heute: sie
sprachen nicht wie sonst, lachten nicht wie sonst und genossen
den Gottesdienst nicht so wie sonst. Irgendwie fühlte sich
alles fremd an, seitdem Gott nach Lureby in den Gottesdienst
gekommen war. Wie gut, dass Odd das Segenslied zu spielen
begann: „Da Jesus satte sjelen frind“ (Als Jesus die
Seele freimachte)
Lasse,
der Schwede, erhob sich, um mit dem Klingelbeutel die Kollekte
einzusammeln. Er war schon einige Zeit auf seiner Bank unruhig
hin und her gerückt, denn heute fiel ihm diese einfache
Aufgabe sehr schwer. Er könne doch nicht, so meinte er,
Gott den Klingelbeutel vor die Nase halten. Sollte er ihn
einfach beim Einsammeln übergehen? Oder sollten sie heute
lieber gar nicht kollektieren? Schließlich entschloss er
sich, den Beutel derart herumgehen zu lassen, dass jeder ihn
einfach an seinen Nachbarn weiterreichte. Er gab ihn Knut
Hanson, der seinen Stammplatz ganz hinten in der Kirche hatte
und setzte sich dann selbst in die erste Reihe, um den Beutel am
Ende der Kollekte wieder in Empfang nehmen zu können. Aber
unglücklicherweise hatte er sich direkt vor Gott gesetzt
und suchte nun verzweifelt in seiner Kleidung nach einem
Geldstück. Normalerweise spendete er am Sonntag nur selten
etwas, da er regelmäßig einen kleinen Betrag auf das
Konto der Kirchengemeinde überwies. Daher wühlte er
verzweifelt in seinen Hosentaschen, bis er – Gott sei es
gedankt – das Fünf-Kronen-Stück für die
Einkaufswagen des kleinen Ladens im Nachbarort fand. Gerade noch
rechtzeitig, denn schon reichte ihm Gott den Beutel von hinten
über die Bank und er warf das Geldstück hinein. Kaum
hatte er das getan, durchfuhr es ihn heiß. Ob Gott gesehen
hat, was ich hineingeworfen habe, fragte er sich ganz
erschrocken und wurde dunkelrot. Was soll der Herr nur von mir
denken, fünf Kronen sind doch zutiefst peinlich. Gott ist
schließlich kein Obdachloser, der bettelt: "Hast du
mal etwas Kleingeld für mich?"
So
dachte Lasse und schämte sich zutiefst, so wenig gegeben zu
haben. Die Gemeinde sang inzwischen schon den letzten Vers des
Liedes: „Hvor Jesus er jeg himlen har!“ (Wo Jesus
ist, fühle ich den Himmel)
Nein,
den Himmel fühlte Lasse ganz und gar nicht. Und er war
froh, nach der „Stille für den Herrn“ und Oles
Segen aus Gottes Nähe zum Kaffeestand flüchten zu
können, so elend und geizig kam er sich vor. Er war
allerdings etwas zu vorschnell, denn Ole richtete heute nach dem
Segen noch einmal das Wort an seine Gemeinde. Er bat darum, dass
sich alle kurz hinten in der Kirche versammeln sollten, da es
noch etwas wegen der anstehenden Gemeindeversammlung zu
besprechen gäbe. Dann wandte er sich an Gott, um ein paar
freundliche Worte mit ihm zu wechseln und ihn zu fragen, ob er
nun regelmäßig kommen würde. Er wollte ihn auch
zum Kirchenkaffee einladen, aber Gott strebte bereits durch den
Mittelgang der Kirchentür zu. Als er die kleine Gruppe der
Kaffeetrinker im hinteren Teil der Kirche durchquerte, drängelte
sich Inger ganz nah an ihn heran und berührte mit ihrer
Hand kurz seine Schulter. Gott hielt inne, sah zu ihr hinüber
und sagte: „Lass ab Schwester, bitte, lass ab!“ dann
ging er weiter und trat vor die Kirchentür. Lasse lief
hinter ihm her, weil er zu gerne wissen wollte, wohin Gott nach
dem Gottesdienst ging, aber als er aus der Tür nach draußen
stürzte, war Gott schon nicht mehr zu sehen. Nur karge,
felsige Landschaft mit kleinen zerbrechlichen Häusern und
die hereinbrechende Dunkelheit erblickte er dort. Drinnen
hatte der Pastor seine Schäfchen um sich gesammelt, um sie
an die Gemeindestunde nach dem Gottesdienst am nächsten
Sonntag zu erinnern. Alle redeten aufgeregt durcheinander, denn
so einen angespannten Gottesdienst hatte noch keiner von ihnen
erlebt. Aber jetzt, wo Gott fort war, konnte man ja wieder so
miteinander reden, wie man es gewohnt war. So musste Ole sie
ermahnen, um endlich das Wort ergreifen zu können. „Am
nächsten Sonntag nach dem Gottesdienst werden wir unsere
Gemeindestunde haben,",begann er mit lauter Stimme, „in
der - wie ihr alle wisst - das Amt eines Ältesten neu
besetzt werden soll.“ - „Ja“, rief Bjorg voll
böser Ahnung, „mein Anders freut sich schon darauf.
Er wird euch ein guter Ältester sein.“ - „Gewiss
Bjorg“, unterbrach sie Ole, „aber meint ihr nicht,
wir müssen Gott einen Platz in unserer Gemeindeleitung
anbieten? Er ist doch der Herr der Gemeinde, das gilt für
die unsrige genauso wie für alle anderen Gemeinden.“
Alle sahen sich ratlos fragend an. Daran hatten sie
überhaupt nicht gedacht. Natürlich lag es nahe, Gott
mit ins Gemeindeleben einzubeziehen. Er war ja schon zweimal zum
Gottesdienst gekommen, da musste man ihn doch fragen, ob er in
Zukunft als Ältester die Gemeindeleitung übernehmen
würde. Anders und seine Frau erhoben sich ärgerlich
von ihren Plätzen. „ Was habt ihr nur gegen meinen
Mann?“, rief Bjorg, „ Immer gibt es eine Ausrede,
immer kommt etwas dazwischen, immer wird er wieder nicht
Ältester." Beleidigt verließ sie mit ihrem Mann
die Kirche die Kirche, noch bevor Ole sagen konnte, er wisse
doch noch gar nicht, ob Gott dieses Amt überhaupt annehmen
wolle. Die Zurückgebliebenen bestärkten Ole in seinem
Vorhaben, Gott zumindest zu fragen. Einige schlugen vor, Gott im
Gebet nach seiner Meinung zu befragen, aber wurden dann von den
anderen überzeugt, dass es wohl sicherer sei, auf Gottes
Antwort am nächsten Sonntag zu warten. Da hätten sie
ja die Gelegenheit, ihn ganz real zu befragen. Als sich etwas
später alle aufmachten, um nach Hause zu gehen, war Inger
schon nicht mehr bei ihnen. So schnell sie nur konnte, war sie
nach Hause gelaufen. Dort angekommen, warf sie sich auf das Sofa
und weinte. Alles brach aus ihr heraus, die Kritik einiger an
den Texten der von ihr ausgesuchten Lieder, die Scham über
die ausgerechnet heute so kümmerliche Leistung des Chores.
Man kann doch nicht einfach mitten im Lied zu singen aufhören,
dachte sie, und dann singen meine Leute, als ob sie flüstern
sollten, verhaspeln sich und brechen das Lied einfach ab. Und
das gerade an einem Tag, an dem Gott sie besucht. Inger nahm
persönlich, was gar nicht persönlich war und so litt
sie an dem, was gar nicht ihr gegolten hatte. Am meisten aber
tat ihr Gottes Antwort für sie weh. Als Ole von der Frau
predigte, die Jesu Gewand berührt hatte und dadurch von
langjähriger Krankheit geheilt wurde, kam ihr plötzlich
in den Sinn, es ebenso zu machen. Jahrelang hatte die Trauer um
ihren verstorbenen Mann ihr Leben zermürbt und sie müde
und traurig gemacht. Und wenn dieser Mann heute in der Kirche
nun wirklich Gott ist, so hatte sie es sich überlegt, dann
werde auch ich durch eine Berührung mit ihm geheilt. Darum
war es ihr gleichgültig gewesen, was die anderen dachten
oder sagten, sie hatte Gott berührt. Mit welchem Erfolg?
Lass los, Schwester, hatte er gesagt, genau den gleichen Satz,
mit dem all ihre psychologischen und seelsorgerliche Gespräche
zu diesem Thema geendet hatten. Oder hatte er nur ganz banal
gemeint, er wolle von ihr nicht berührt werden? Ganz
gleich, was er gemeint hatte, sie fühlte sich in ihrem
Glauben getäuscht und verletzt.
*
Die
Woche verlief auch für ihre Glaubensgeschwister in Lureby
nicht gut. Alle waren irgendwie unglücklich, etwas fühlte
sich falsch an und niemand konnte ihnen sagen, was es
war. Anders saß wie besessen über seiner Bibel.
Sehr wohl verstand er, was Ole hatte sagen wollen. Natürlich
musste man Gott einen Platz in der Gemeindeleitung geben, denn,
so sagt es ja der Apostel Paulus im Korintherbrief, Jesus ist
das Haupt der Gemeinde. Daran hatte er, wie alle anderen auch,
keinen Zweifel. Aber warum traf es ausgerechnet immer ihn?
Wollte Gott ihn nicht im Ältestenamt haben? Schätzte
Gott seine Bibelkenntnis nicht? Sie wäre doch gerade im
Vorstand der Gemeinde von großem Vorteil für alle.
Welche Gemeinde wünscht sich keinen bibelfesten Vorstand?
So dachte er und Wolken zogen sich über ihm und in ihm
zusammen. Nach drei langen Tagen des Grübelns sprang er
plötzlich auf, ergriff Jacke, Mütze, Schal und rannte
zu Ole Einar Björndalen, seinem Pastor. In der Aufregung
hatte er die Zeit vergessen und so klingelte er stürmisch
zu nächtlicher Stunde den alten Mann aus Bett und Haus. Ole
rieb sich verwundert die Augen, Anders so spät ganz
aufgeregt und aufgelöst vor seiner Tür zu sehen. Er
bat ihn herein und kurze Zeit später saßen sich die
Männer am Küchentisch gegenüber. Anders packte
seine Bibel auf den Tisch, holte tief Luft und dann platzte es
aus ihm heraus: „Er kann nicht Ältester werden, Ole,
er kann es einfach nicht! Das wäre zutiefst unbiblisch“
- „Wovon redest du, Anders, beruhige dich doch erst
einmal!“, versuchte der Pastor mäßigend auf
seinen Glaubensbruder einzuwirken. „Gott, ich rede von
Gott!“, erwiderte Anders ganz aufgeregt. „Gott kann
gar nicht Ältester in unserer Gemeinde werden. Das geht gar
nicht!“ - „Und wer sagt das?“, fragte Ole
immer noch verwirrt. „Die Bibel!“, rief Anders,
„Glaub mir Ole, vertrau mir, nach der Heiligen Schrift
kann Gott niemals Ältester in einer Gemeinde werden. Schau
her!“ Anders blätterte in seiner Bibel, um dann dem
etwas verstört dreinblickenden Pastor triumphierend die
Qualifikationen eines Ältesten nach Titus 1 Vers 6
vorzulesen. Dort heißt es: „Älteste müssen
Männer sein, die ein vorbildliches Leben führen; das
heißt, sie müssen ihrer Frau die Treue halten, ihre
Kinder sollen die Eltern achten und nicht als zügellos und
ungehorsam bekannt sein.“
„Verstehst
du jetzt, Ole?“ Anders schaute Ole triumphierend an. Als
Ole verneinte, rief Anders mit sich überschlagender Stimme:
„Hier steht ganz deutlich, wie ein Ältester zu sein
hat. Er soll eine Frau haben und Kinder, die auf keinen Fall
ungehorsam sein dürfen. Das steht hier schwarz auf weiß!“
- Als Ole scheinbar immer noch nicht verstand, setzte Anders
nach: „Hat Gott eine Frau? Hat Gott Kinder? Ja, die hat er
zwar, denn die Schrift sagt, w i r sind seine Kinder! Aber sind
wir stets gehorsam? Nein Ole, das sind wir nicht, du bist es
nicht, ich bin es nicht und wir beide kennen viele Christen, die
sündigen oder gesündigt haben. Wenn er also keine
gehorsamen Kinder hat, kann Gott nicht Ältester werden,
wenigstens nicht hier unten auf Erden!“ - „ Hör
auf, Anders!“, rief Ole entsetzt “Versündige
dich nicht! Das ist doch Unsinn! Schlafen wir uns erst einmal
richtig aus und Sonntag sehen wir weiter!“ Der Pastor
schob ihn etwas unsanft zur Tür und schloss diese hinter
ihm. Gekränkt ging Anders nach Hause. Er wollte doch nur,
dass die Gemeinde biblisch lebte. Warum verstand das nicht
einmal sein Pastor? Noch einiges geschah in dieser Woche:
Eline und Kari erschienen bei Ole zur Seelsorge. Er sprach lange
mit ihnen über das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen
und konnte sie davon überzeugen, in Zukunft wieder am
Gottesdienst teilzunehmen. Arne und Torill beschlossen
ebenfalls, am nächsten Sonntag wieder zum Gottesdienst zu
gehen, denn man könne ja nicht immer dann zu Hause bleiben,
wenn Gott in die Kirche komme. Nur Jonas wurde in der Woche kaum
gesehen. Einige meinten, sie hätten ihn nachts mit einer
Taschenlampe draußen herumlaufen sehen. Wenn man bei ihm
klopfte, verweigerte er das Öffnen der Tür und auch
Linea hatte keinen Erfolg bei ihren Versuchen, Kontakt mit ihm
aufzunehmen. Inger half in dieser Woche täglich den
Fischern beim Abladen des Fanges und beim Aufladen desselben auf
Lasses Lastwagen. Sie erledigte ihre Aufträge stets
gewissenhaft und stellte in dieser Woche eine merkwürdig
wunderbare Veränderung an sich fest. Immer wenn sie an
ihren verstorbenen Mann dachte, spürte sie keine
Traurigkeit, beklemmende Gedanken oder Vorwürfe Gott
gegenüber mehr in sich. Nein, sie fühlte eine tiefe
Dankbarkeit für die Zeit, die sie mit ihm hatte verbringen
dürfen. Ob Gott doch etwas in ihr verändert hatte,
fragte sie sich und bereitete erwartungsvoll die Lieder für
den nächsten Gottesdienst vor. Dabei achtete sie sorgfältig
auf die Texte, denn niemand sollte etwas singen, hinter dem er
nicht stehen konnte.
*
Der
Sonntag kam, sie sangen das Eingangslied, hörten ein
Glaubenszeugnis und versuchten sich im Lobpreis.Auch Jonas war
wieder gekommen, etwas zögerlich, unsicher zunächst,
aber das legte sich bald.
Nur einer kam nicht: Gott
Ole
hielt eine weitere Predigt zum Thema Dankbarkeit, Anders gab wie
immer seinen Kommentar dazu ab und wurde in der anschließenden
Gemeindeversammlung zum Ältesten gewählt. An deren
Abschluss beteten alle gemeinsam und es berührte sie
seltsam, dass ausgerechnet Knut Hanson bat: „Herr, ich
habe dich heute vermisst, wo warst du? Antworte uns doch!“ Aber
Gott zeigte sich nicht mehr in Lureby. Als das die
Gemeinde begriffen hatte, löste sich nach und nach die
Anspannung und ihr Gottesdienst wurde wieder richtig schön:
keine Selbstvorwürfe, keine Ängste, keine Zweifel und
jeder kleidete sich wieder so, wie er wollte. Alles lief so
unkompliziert und entspannt ab wie früher: Das Singen
ebenso wie die geistlichen Bilder und Ermutigungen, die
Glaubenszeugnisse, Oles Predigt und vor allem der Lobpreis. Das
änderte sich auch nicht, als an einem der nächsten
Sonntage plötzlich die vier Heiden in der Kirche standen.
Beide Ehepaare sahen sich unsicher um und freuten sich, dass Ole
gleich zu ihnen eilte und sie begrüßte. Sie sagten,
sie hätten gehört, Gott käme in diese Kirche zum
Gottesdienst. Den würden sie gerne einmal sehen und
sprechen.
Als
Ole ihnen erklärte, Gott würde schon seit zwei Wochen
nicht mehr zum Gottesdienst erscheinen, drehten sie sich auf der
Stelle um und gingen mit den Worten: wenn Gott nicht hier wäre,
dann hätten sie hier auch nichts zu suchen. Nur Ragna, die
Frau von Johann Petersson, blieb, weil sie nun eh schon mal da
war. Und da ihr der Lobpreis und die Kaffeegemeinschaft so gut
gefiel, blieb sie für immer. Und so bekam Odd für all
seine Gebete doch noch seine ganz kleine Erweckung in Lureby.
Sie
genossen es einfach, in ihrem kleinen Kirchlein wieder ganz
unter sich zu sein und freuten sich, dass Inger ein neues Lied
mit ihnen einstudierte, ein hoffnungsvolles, glaubenstärkendes:
"Sprich,
o Herr, denn wir stehn vor dir, um zu hören nun auf
dein heilges Wort. ...... Sprich, o Herr, bis die Zeit
erfüllt und du kommst in deiner Herrlichkeit"
.....
aber Gott schwieg, denn stören wollte er nicht.....
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