Die Lady von Shalott

Alfred Lord Tennyson

Auf jeder Seite des Flusses gleich neben der Heidelandschaft
liegen weitläufige Gersten- und Roggenfelder,die den Himmel
zu berühren scheinen. Mitten durch das Feld führt die Straße
zum vieltürmigen Camelot. Die Leute, die vorbeikommen,
schauen nach den Lilien, die dort um eine Insel herum blühen,
die Insel von Shalott.

Weiden ergrauen, Espen erzittern, eine leichte Brise streicht
über die Wellen, die seit Ewigkeiten die Insel umspülen, die
Insel im Fluss nach Camelot. Vier graue Mauern und vier
graue Türme überragen ein Meer von Blumen und die
stille Insel umschließt
die Lady von Shalott



Nur die Schnitter, die frühmorgens draußen in der reifen
Gerste arbeiten, hören ein Lied, das glockenhell vom Fluss
herüberklingt, der sich zum vieltürmigen Camelot herunter-
windet. Und wenn der Mond schon am Himmel steht,
flüstert der müde Schnitter, der die Garben im luftigen
Hochland bündelt: Das ist die Fee,
die Lady von Shalott

.....

Dort webt sie Tag und Nacht ein magisches Tuch in
leuchtenden Farben. Denn sie hat eine Stimme flüstern
hören, dass Unheil über sie kommen wird, wenn sie ihre
Arbeit unterbricht, um auf Camelot hinunterzusehen. Und
da sie die Art des Unheils nicht kennt, webt sie unaufhörlich,
da sie kaum eine andere Wahl hat:
die Lady von Shalott

Und in dem magischen Spiegel, der all die Jahre vor
ihr hängt, erscheinen die Schatten der Welt: sie sieht
die Straße, die sich nach Camelot hinunterwindet, ganz
nah ..... und manchmal reiten durch den blauen Spiegel
paarweise die Ritter, aber sie hat keinen treuen Ritter,
der zu ihr hält,
die Lady von Shalott

 

Trotzdem bereitet es ihr immer noch Freude, die magischen
Erscheinungen des Spiegels in ihr Tuch einzuweben. Gar
oft bewegte sich durch die stillen Nächte ein Trauerzug,
geschmückt mit Federn und Lichtern inmitten von Musik nach
Camelot. Oder als der Mond am höchsten stand kamen
zwei spät verheiratete junge Liebende. „Ich bin halb krank
von den Schattenbildern“, sagt die Lady von Shalott

Nur einen Bogenschuß von ihrer Kemenate entfernt ritt
zwischen den aufgestellten Gerstegarben mit von der durch
die Blätter fallenden Sonnenstrahlen leuchtenden Beinschienen
Sir Lanzelot. In seinem Schild, der im gelben Felde blitzte,
kniete ein Ritter vor einer Dame,
nicht weit entfernt vom Shalott

......

Seine breiten Augenbrauen leuchteten in der Glut der Sonne,
auf glühenden Hufen flog sein Streitross dahin. Unter seinem
Helm wallten pechschwarze Locken hervor auf seinem Ritt
nach Camelot. Vom Flussufer her erschien er in dem Spiegel
„Tirra, lirra!“ sang Sir Lancelot

Sie aber verließ ihren Webstuhl, verließ ihr Tuch und machte
nur drei Schritte durch den Raum. Sie sah die Wasserlilien
blühen, sie sah den Helm und Federschmuck, und schaute
hinunter nach Camelot. Das Tuch flog hinaus und trieb auf
dem Wasser. Der Spiegel zerbrach. „Das Unheil ist über
mich gekommen!“ rief die Lady von Shalott

Die fahlen Wälder ächzten im Nordoststurm. Der Fluss
stöhnte in seinem Bett, der tiefhängende Himmel regnete
sich über dem vieltürmigen Camelot aus. Sie aber ging
nach unten, fand ein Boot unter der Weide im Wasser
liegen und schrieb an seinen Bug:
die Lady von Shalott


Mit gläsernem Angesicht blickte sie den trüben, nebligen
Fluß entlang nach Camelot, wie jemand, der in Trance sein
eigenes Unglück erkennt. Aber als der Tag sich neigte,
löste sie die Bootskette und legte sich nieder und der
breite Strom trug sie sehr weit fort,
die Lady von Shalott

Ganz und gar in ein weißes, wehendes Gewand gehüllt
lag sie in ihrem Boot, das sie durch das Wispern der
anbrechenden Nacht nach Camelot trug. Und über die
Weiden und Felder an den Ufern hörte man sie ihr
letztes Lied singen,
die Lady von Shalott


Aber sie hörte einen heiligen, traurigen Lobgesang
bald laut, bald leise vorgetragen, bis ihr Blut allmählich
erstarrte und ihr Augenlicht dunkler und dunkler wurde
gerichtet auf das vieltürmige Camelot. Sie starb noch
ehe sie auf einer Welle das erste Haus am Ufer
erreichte mit ihrem Gesang auf den Lippen,
die Lady von Shalott

Unter Türmen und Balkonen, an Gartenmauern und
Säulenhallen vorbei, glitt sie als leuchtend schimmernde
totenblaße Gestalt durch Camelot. Hinaus zum Hafendamm
liefen die Ritter, Bürger, die Herren und Damen, und am
Bug lasen sie ihren Namen:
die Lady von Shalott

Wer ist das und was ist hier los?“ Und im hell erleuchteten
Palast verstummte der königliche Trubel und die Ritter von
Camelot bekreuzigten sich vor Furcht. Aber Lancelot
überlegte eine Weile und sagte dann: „Sie hat ein hübsches
Gesicht. Möge Gott in seiner Barmherzigkeit ihr
seine Gnade verleihen,
der Lady von Shalott

 

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