Elfenkind
Eine Geschichte von Saron
ie saß am Bach und weinte. Sollte es wirklich alles zu Ende sein? Sollte sie niemals mehr hier spielen, singen oder nach glatten Steinen suchen können? Nie mehr mit den kleinen Nymphen lachen oder mit ihnen um die Wette springen? Kleine Tränen rannen über ihre Wange und vermischten sich mit dem klaren Wasser des plätschernden Baches. Wie hatte die Älteste des Elfenrates gesagt? „Wir müssen diesen Wald verlassen, denn die Menschen haben uns vergessen.
Sie glauben nicht mehr an uns, sondern nur noch an das, was sie mit den Augen sehen können. Uns aber kann man nur mit den Augen des Herzens sehen. Das haben sie verlernt. Wir müssen sterben, wenn niemand mehr an uns denkt, lasst uns nach Ophir ziehen. Das ist der einzige Ausweg!“ Und alle vom Elfenrat hatten zugestimmt, bis auf die alte Haselfee, die schon immer anders gedacht hatte und sehr erfahren war. „Lasst uns noch eine Woche bleiben“, hatte sie den anderen vorgeschlagen, „wenn in dieser Woche kein Mensch an uns denkt oder unseren Namen ausspricht, dann wollen wir gehen.“
Sie hatte sich gefreut: eine Woche, bestimmt würde einer der Menschen nur einmal „Elfe“ sagen oder seinem Kind ein Märchen von ihnen vorlesen. Es gab doch so schöne Geschichten! Aber heute war der letzte Tag, und nichts war geschehen! Alle waren schon am Packen und es war merkwürdig still im Elfenwald. Sogar die Holunderfee sang nicht mehr, die sonst immer die Fröhlichste war. Elfenkind sah ihr Spiegelbild im Bach und bemerkte, dass ihre Tränen jetzt wie kleine Perlen auf dem Wasser tanzten, schaukelnd und hüpfend dem Dorf entgegen, in dem die Menschen wohnten. Ob das ein Zeichen war? Ganz aufgeregt lief sie zu ihren Eltern. “Hört“, sagte sie, „ich werde zu den Menschen gehen und sie aufwecken, damit sie wieder richtig sehen können!“ - „Du? Was willst du ausrichten? Die Menschen haben uns nicht verdient“, meinte ihre Mutter, und ihr Vater erwiderte:
Komm zur Vernunft, Elfenkind, wie willst du schaffen, was uns nicht gelang?“- „Träumerin, Träumerin!“, neckten sie ihre Brüder und nur Elfenkindskleineschwester, die erst so groß wie eine Hand war, machte ihr Mut und sagte: „Ich würde so gerne mitkommen und dir helfen, aber sie lassen mich nicht. Du kannst und wirst es schaffen, das weiß ich von Saron, dem Zauberer! Ich wünsche dir viel Glück, und sei vorsichtig, mein liebes Elfenkind!“
Elfenkind zog ihr schönstes, aus den guten, ausgeträumten Träumen der Menschen gewebtes Kleid an, das sie unsichtbar machte vor den Leuten im Dorf, denn das war in uralten Gesetzen so festgelegt, dass man Elfen nur mit den Augen des Herzens sehen kann, und federleicht schwebte sie auf den Weg.
Der war wider Erwarten sehr beschwerlich, und beinahe wäre sie mit ihrem zarten Kleidchen in den dornigen Brombeerranken hängen geblieben, wenn nicht im letzten Augenblick ein Käuzchen: „Hab´ Acht! Hab´ Acht!“, gerufen hätte. Dann begann es auch noch zu schneien, als Elfenkind gerade im Dorf ankam. Erwartungsvoll klopfte sie an die erste Tür. Ein Mann öffnete, sah sich um, brummte etwas in seinen Bart und schloss die Tür wieder. So ging es eins ums andere Mal. Elfenkind war entsetzt. „Sie können uns wirklich nicht sehen. Ihre Herzen haben keine Augen mehr!“, flüsterte sie und ging auf ein Wirtshaus zu, in dem viele Menschen lustig feierten. Elfenkind fror und hätte sich gerne ein wenig aufgewärmt, aber sie traute sich nicht hinein, denn diese Art von Fröhlichkeit war ihr fremd. So zog sie an der Klingelschnur, worauf ein griesgrämiger Wirt seinen Kopf zur Tür herausstreckte. „Wer war das? Wenn ich euch erwische, Lausbuben! Ich habe keine Zeit für solche Späße. Die vielen Gäste, ich muss Geld verdienen!“, rief er wütend. Er hatte sie auch nicht gesehen! Und sogar die Leute auf dem kleinen Markt, auf dem allerhand Bastelkram angeboten wurde, bemerkten das Elfenkind nicht. Sie dachten nur an ihr Geld, ihre Geschäfte, ihr Vergnügen und nicht an andere. Schon gar nicht an Elfenkinder.
Elfenkind fror. Sie war müde und erschöpft, als sie schließlich die Dorfkirche fand. Knarrend öffnete sich die alte Tür: drinnen war es kalt und still. Elfenkind kauerte sich auf eine der leeren Bänke. Der Schnee schmolz in ihren Haaren und tropfte auf ihr durchnässtes Kleidchen. „Sie kennen uns wirklich nicht mehr, wir sind verloren, wir müssen fort“, hauchte sie und sah mit großen Augen auf das alte Kreuz, das über dem Altar hing. „Und dich kennen sie auch nicht mehr“, seufzte sie, dann fielen ihr die Augen zu.
Als sie wieder aufwachte, lag sie in einem kleinen Bettchen und neben ihr lag ein großes Menschenmädchen mit langen schwarzen Haaren und dunklen Augen. „Wo bin ich, was ist passiert?“, fragte Elfenkind überrascht. - „Ich fand dich in der Kirche, und weil du so frorst, habe ich dich mitgenommen und in mein Bett getragen, und nun wärme ich dich.“
Du kannst mich sehen? Du kannst mit dem Herzen sehen?!!“ Elfenkind richtete sich auf und lächelte.“Wie spät ist es?“ ,rief sie ungeduldig. „Es wird wohl bald Mitternacht sein“ , antwortete das Menschenmädchen und wunderte sich, dass Elfenkind so fröhlich im Zimmer herumtanzte. „Wir sind gerettet, wir sind gerettet!“, rief sie immerzu und erzählte dem erstaunten Mädchen die ganze Geschichte. „Vielleicht kann ich dich sehen, weil ich ein Kind bin; aber sag, kleine Elfe, warum hast du dich bei all dem Schnee und der Eiseskälte zu uns Menschen aufgemacht?“, fragte das Mädchen.
Weil ich euch liebhabe, antwortete Elfenkind und lächelte.
Ich habe dich auch lieb!, antwortete die Kleine und streichelte sie ein wenig.

Am anderen Morgen verabschiedete sich Elfenkind früh und machte sich auf, denn sie vermisste ihren Wald gar sehr. Und sie vermisste Elfenkindskleineschwester, die ihr mehr von Saron, dem Zauberer, erzählen sollte.
Und solltest du einmal eine Elfe vermissen, so ist das sehr gut für dich,
denn dann kannst du mit dem Herzen sehen.

Für Elfenkind
©1999 P. Eitner
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