Gisje


Eine Geschichte von Saron

Die kleine Haselfee flog so schnell sie nur konnte: geschickt an den Haselnusszweigen vorbei, über Brombeerranken, umrundete eilig ein paar Disteln, die ihre blauen Köpfchen im Wind wiegten, und landete dann sicher vor Elfenkinds Baum. Kaum schaute diese nach dem Grund der Aufregung, da prustete die Kleine auch schon los: "Du musst kommen, Elfenkind, schnell, ein Menschenmädchen hat sich in unseren Wald verirrt! Es sitzt beim Tiefen Wasser, dort, wo der Weg die Biegung macht!" Elfenkind zögerte: " Es ist doch nichts Ungewöhnliches, kleine Haselfee, dass Menschen in unseren Feenwald kommen, allerdings so weit kommen nur wenige!" Inzwischen hatte sich das ganze Feenvolk vor Elfenkinds Baum eingefunden, aufgeschreckt durch Haselfees laute Stimme, und hörte gespannt zu. Bei den Feen ist es nämlich so, wie es bei den Menschen auch sein sollte: Sie sind sich gar nicht immer in allem einig, aber wenn etwas Ungewöhnliches geschieht oder eine Gefahr droht, halten sie alle ganz fest zusammen. Und ein Mensch im Feenwald ist zwar kein Unglück und schon gar keine Gefahr, sonst wären du und ich ja auch nicht willkommen, aber er ist eher etwas Seltenes und Ungewöhnliches. Und so lauschten alle ganz andächtig, als Haselfee fortfuhr: "Ich glaube aber, das Mädchen ist sehr traurig!" - "Gut", erwiderte Elfenkind, "dann wollen wir zu ihr!"

Sofort ertönte ein großes Gesumme, und alle Feen, seien sie groß oder klein, erhoben sich, um in den Wald hineinzufliegen. Das war schön anzusehen, denn sie hatten alle bunte Kleider an und noch buntere Flügel. Nur Elfenkind blieb zurück, denn sie ist ja eine Elfe und die meisten von ihnen haben keine Flügel. So kam sie nur langsam voran, denn der Feenwald ist mit Gebüschen dicht bewachsen und ein Baum, der umfällt, darf so liegenbleiben, wie er fällt, und man muss über ihn hinüberklettern, wenn man jemandem helfen will. Der Weg zu Festen und Feiern ist oft einfach und schnell, aber zu einem, der in Not ist, gelangt man manchmal nur schwer.

So kamen die Feen als erste zum Tiefen Wasser und weil sie unsichtbar für das Mädchen waren, setzten sie sich auf die Zweige der Büsche und Bäume ringsum und beobachteten das Menschenmädchen, das in der Tat sehr traurig zu sein schien, denn eine glänzende Träne im Auge verriet, dass es geweint hatte. Als die Feen noch beratschlagten, was hier zu tun sei, erhob sich das Mädchen, ging zu den Brombeerbüschen hinüber und suchte nach dunklen, reifen Beeren. Doch so sehr es sich auch mühte, es konnte keine Brombeere entdecken, denn die Schrate, diese hinterhältigen Störenfriede, drehten die Früchte so, dass sie hinter den großen Blättern der Ranken verschwanden. Ja, manchmal ist man in der Not der Hilfe so nahe, bekommt sie dann aber doch nicht, weil andere einen daran hindern!

Also setzte sich die Kleine wieder auf einen Baumstamm und versuchte, irgendwo etwas Essbares zu erspähen, denn sie hatte großen Hunger. Da lagen neben ihr plötzlich drei wunderschöne Brombeeren, dann noch zwei und je mehr sie aß, desto mehr Beeren schafften die eifrigen Feen heran.
"Was ist das?", fragte sie plötzlich laut, und es war ihr, als hörte sie tief in ihrem Herzen eine leise Stimme, die flüsterte: "Sei ganz ruhig, gib nicht auf, wir helfen dir, alles wird gut!" - "Wer seid ihr? Warum kann ich euch nicht sehen?", rief das Mädchen und dann hörte es ein Geräusch und hielt sich erschrocken den Mund zu.
Denn zwischen den Baumstämmen stand Elfenkind. Ihr rötliches Haar flatterte im Wind als sie freundlich das Mädchen ansprach und sich zu ihm auf den Stamm setzte: "Ich bin Elfenkind. Ich lebe hier im Wald und die, die du nicht sehen kannst, sind die Feen, die auch in diesem Teile des Waldes wohnen!" - "Warum aber kann ich dich sehen?", fragte das Mädchen weiter. "Weil ich heute nicht das Kleid aus den ausgeträumten Träumen der Menschen trage, das mich unsichtbar macht vor ihnen. Aber sag, wie heißt du?", fragte jetzt Elfenkind. "Mein Name ist Gisje, ich bin weggelaufen in den Wald, weil ich mir Sorgen machte. Nun habe ich mich in den Sorgen verirrt. Weißt du einen Weg hinaus?", erwiderte die Kleine. "Gisje, welch seltener Name.", sagte Elfenkind mehr zu sich selbst. "Aber dein Problem ist einfach zu lösen: Der Weg hinein ist auch immer der Weg hinaus!" Die Feen klatschten, als sie das hörten, doch Gisje fuhr fort: "Aber ich habe den Weg verloren, ich weiß den Ausweg nicht!" - "Ich werde ihn dir zeigen, nachdem du dich satt gegessen und gestärkt hast!", erwiderte Elfenkind. "Sorgen gibt es bei den Feen auch ab und zu, aber sie sind sehr wichtig für uns, denn wir lernen durch sie vieles und sind hinterher klüger als vorher. Niemand wünscht sich Sorgen, aber wenn sie nun schon einmal da sind, muss man das Beste aus ihnen machen!" - " Ich bin aber doch so alleine!" warf Gisje ein. "Alleine? Wer gab dir zu essen, als du Hunger hattest, wer sprach in deinem Herzen zu dir? Du kannst sie nicht sehen, dennoch sorgten sie für dich, deine Feen! Und sie haben die Schrate davongejagt, damit sie dir nichts anhaben konnten!"

"Warum taten sie das für mich?" Giske war erstaunt.
"Weil sie dich liebhaben!", antwortete Elfenkind.
"Aber wie können sie jemanden liebhaben, den sie doch gar nicht richtig kennen?", wollte das Mädchen wissen und schaute Elfenkind erwartungsvoll an.
"Weil sie Seelen wie Kinder haben!", erwiderte diese.
"Und du, bist du auch ein Kind?", fragte Gisje weiter, denn sie hatte nicht so recht verstanden.
"Ich heiße: ElfenKIND!" lächelte diese, nahm Gisje bei der Hand und brachte sie zurück zum Weg, der zu den Menschen führt.
"Ihr seid wunderbar, einfach wunderbar, vielen Dank für alles!", rief Gisje in den Wald hinein und umarmte Elfenkind.
" Vergiss es nicht: Der Weg hinein ist auch immer der Weg hinaus!", rief Elfenkind der Davoneilenden nach und ging zu ihrem Platz am Lachsbach zurück.


Eine einzelne Mohnblume wiegte dort ihr Köpfchen im Wind und
nicht eines ihrer roten Blütenblätter fiel an diesem Abend zu Boden.

Für Gisje

© P. Eitner 00