Lisa fällt um

Wann klingelt es endlich, dachte Lisa, wann ist diese blöde Naturkundestunde endlich um? Kann Herr Seibelstein nicht mal etwas schneller reden?
Sie musste unbedingt zu Ecrin und ihr die neueste Neuigkeit erzählen. Gerade als sie heute Morgen auf den Schulhof kam, meldete ihr Handy eine SMS. Weil es schon etwas spät war – was selten bei ihr vorkam – öffnete sie noch im Gehen die Nachricht und las mit lautem Herzklopfen:
"Hallo Lisa, am letzten Dienstag konnte ich nicht zum Floorball,
aber in dieser Woche geht es. Ich warte dann morgen vor
Eurem Haus. LG Tjorben"
Total süß fand Lisa diese SMS, das würde bestimmt auch Ecrin sagen.
Aber Herr Seibelstein redete und redete, berichtete, dass Waldmäuse zu den Langschwanzmäusen gehören, die besonders gerne in Hecken, Grabenrändern oder Gewässerufern wohnen, aber auch in Parks und Gärten.
Und warum heißen sie dann Waldmäuse, wenn die überall wohnen nur nicht im Wald? dachte Lisa und starrte auf die Uhr. Aber auch, wenn sie dies alle zwei Minuten tat, es half nichts, die Stunde ging nicht schneller herum.
Weiter ging es also mit der Waldmaus, die ein Allesfresser ist, sich aber besonders gerne von Haselnüssen, Bucheckern, Eicheln und sogar wirbellosen Tieren ernährt.
Wirbellose Tiere, was ist das denn schon wieder? Lisa wurde immer ungeduldiger.
Gerade als Herr Seibelstein voller Begeisterung verkündete, dass eine Waldmaus im Jahr in drei Würfen über 20 Junge zur Welt bringt, klingelte es. Lisa dachte noch „Oh die arme Maus", dann sprang sie auf, rannte zur Tür, riss diese auf, lief über den Flur die Treppen zum ersten Stock hoch, wo die Klassenräume der Größeren waren, und dann wurde es mit einem Male schwarz vor ihren Augen, sie stolperte und fiel um. Einfach so.
Es rauschte ein wenig in ihrem Kopf, dann hörte sie die Stimmen der Mitschüler immer deutlicher. Ihre Hände waren kalt und feucht. Sie lag am Boden und konnte sich nicht bewegen. Viele Augenpaare starrten auf sie herab. Oh, wie peinlich! Gerade als der Druck langsam aus ihrem Kopf zu weichen begann, hörte sie Herrn Strackerjahns Stimme: „Lisa, was ist? Hörst Du mich? Was ist los mit dir?“ Lisa versuchte aufzustehen; es gelang ihr mit der Hilfe einiger von Ecrins Klassenkameraden, die sie auch zum Lehrerzimmer begleiteten. Herr Strackerjahn führte den kleinen Trupp an und so gelangten sie schließlich zu dem kleinen Büro der Schulsekretärin, gleich neben dem Pausenzimmer der Lehrer. In diesem Büro gab es einen Durchgang zu einem weiteren kleinen Raum, in dem eine gepolsterte Liege stand. Darüber hing ein weißer Kasten mit einem roten Kreuz und darunter hatte jemand einen Zettel geklebt, auf dem stand mit Grußbuchstaben: FÜR NOTFÄLLE! Herr Strackerjahn bestand darauf, dass Lisa sich auf diese Liege legte. Bin ich jetzt ein Notfall,  dachte Lisa. Noch nie hatte sie in diesem Raum gelegen.

Sie hatte ein wenig Angst. „Lisa, was ist los, warum bist du umgekippt?“ ,fragte jemand.
„Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht!“, beteuerte Lisa und bemerkte, dass Herr Strackerjahn sich unten auf die Liege gesetzt hatte. Er sah sie freundlich an und auch Frau Jahnke, die Sekretärin, schaute sorgenvoll zu ihr herüber. „Hattest du Stress zu Hause oder warst du in der letzten Zeit krank? Ist dir so etwas schon des Öfteren passiert?“ Frau Jahnke ergriff ihre Hand und fühlte ihren Puls. Dann legte sie ihre Hand auf Lisas Stirn, so wie die Mutter es  immer macht, wenn sie sehen will, ob Lisa Fieber hat. „Fieber hat sie nicht“, sagte Frau Jahnke zu Herrn Strackerjahn, „ich weiß auch nicht, was sie hat.. Ich rufe mal ihre Mutter an.“
„Vielleicht hat sie sich ja den Magen verdorben und ihr ist einfach übel geworden!“, meinte Herr Strackerjahn und fuhr dann fort, indem er Lisa ansah: „Hast du heute Morgen etwas Schlechtes gegessen, irgendetwas, das schon zu alt oder schimmelig war?“ - „Ich habe gar nichts zum Frühstück gegessen, ich mag morgens nicht essen!“ - „Und in der großen Pause, hast du da dein Frühstücksbrot gegessen?“ - „Nur ein paar Kaubonbons. Ich bekomme nichts hinunter, erst mittags habe ich Hunger!“ - „Und gestern, wie war es gestern?“, fragte Herr Strackerjahn weiter. „Da habe ich am Vormittag auch fast nichts gegessen.“, brachte Lisa leise hervor, denn diese ganze Fragerei war ihr mindestens ebenso peinlich wie die Umfallerei.
Aber Herr Strackerjahn bohrte unerbittlich weiter: „Und du bist sicher, Lisa, dass du nur deswegen nichts isst, weil du vormittags nichts magst?“ Denn er hatte schon Kinder erlebt, die nichts essen wollten, weil irgendeiner zu ihnen gesagt hatte, dass sie zu dick seien, obwohl sie ganz normal aussahen.
„Ja, Herr Strackerjahn, ich bin ganz sicher! Aber heute Morgen, glaube ich, habe ich auch das Trinken vergessen, wir waren etwas spät dran.“
„Na Gott sei Dank, Lisa! Dann wissen wir ja den Grund. Du musst morgens unbedingt etwas essen und vor allem viel trinken. Das habe ich euch doch im Sportunterricht schon erzählt. Also, ich muss jetzt zum Unterricht. Deine Mutter kommt gleich, ruhe dich mal richtig aus, iss und trink und wir sehen uns dann morgen!“
Da rüttelte Lisas Handy in der Hosentasche. In der morgendlichen Hetze hatte sie ganz vergessen, es auszustellen, als sie auf den Schulhof gekommen war. Vorsichtig, damit es Frau Jahnke nicht bemerkte, las sie die Nachricht:
"Bin krank heute, bin zu Hause. Kommst du vorbei? Ecrin."
Ja, das wollte sie. Es gab viel zu erzählen von Tjorben, dem Floorball und vom Umfallen in der Schule. Und wie peinlich das alles ist. Gute Freundinnen sind immer gemeinsam krank, dann haben sie viel Zeit zum Quatschen, dachte Lisa, als sie ihrer Mutter in die Arme fiel.

Eine Geschichte von ©P.Eitner


Copyright © P. Eitner