Das Mädchen, das anders war

Sie denkt anders als wir“, sagten ihre Brüder. „Sie fühlt anders“, ihre Schwestern und ihre Eltern meinten: „Ja, irgendwie ist sie anders als die anderen .“ und sie machten sich hin und wieder Sorgen. Nicht etwa, weil sie fauler oder frecher war als die anderen Kinder, und schon gar nicht, weil sie gar verbotene Dinge tat, nein, darin war sie nicht anders. Nur sagte sie manchmal „nein“, wenn alle anderen „ja“ riefen, oder sie spielte mit denen, die sonst keinen zum Spielen haben, was viele für sehr unangemessen hielten. Auch sagte sie manchmal „ich hab´ dich lieb“ zu Leuten, die sie gern hatte, und das gerade fanden einige gar nicht gut, weil „ich hab´ dich lieb“ schon lange keiner mehr zu ihnen gesagt hatte. So konnten sie es nicht lassen, sich über das Mädchen lustig zu machen und sich bedeutungsvolle Blicke in ihrer Gegenwart zuzuwerfen, denn die Liebe zur Wahrheit habe ja bekanntlich ihre Grenzen, meinten sie.

Es zogen die Jahre ins Land, und ihre Brüder und Schwestern heirateten. Auch sie selbst fand einen lieben Mann und lebte mit ihren Kindern nicht weit von ihnen entfernt , aber doch weit genug, dass sie den Spott der anderen ertragen konnte.

Da kamen eines Tages andere Herren ins Land, die befahlen den Leuten, ihre Blumen und alle blühenden Bäume zu zerstören, weil deren Schönheit jedermann von der Arbeit abhalte und deswegen in Zukunft verboten sei. Andere ordneten an, alle Vögel zu fangen, denn wer auf den Gesang lauscht, wird auf die Dauer ein Träumer und zur Arbeit kaum zu gebrauchen sein.

Und weil das Mädchen, das anders war, „Nein“ sagte zu den Männern und ihren Vorschriften, baute man um ihr Haus und ihren Garten eine ziemlich hohe Mauer mit nur einem ganz winzigen Eingang, denn schließlich seien sie ja keine Unmenschen, wie sie unaufhörlich beteuerten, und wollten für alle nur das Beste. Da müsse man sich eben schützen vor solchen, die anders seien. Sie verboten den Leuten dann noch, Vorräte anzulegen und die Frucht ihrer Arbeit zu genießen, denn dies sei ein Laster und würde sie nur faul und träge machen und vom rechten Wege abbringen.

Zuerst waren alle begeistert, denn endlich wusste offenbar jemand, was zu tun sei, und der Arbeitseifer war groß. Aber dann nach einer gar nicht so langen Zeit klopfte es an die kleine Tür in der Mauer und ein Kind betrat den Garten des Mädchens, das anders war, atmete tief die klare Luft, genoss den Gesang der Vögel und trank die Farbenpracht der Blüten. „Wie schön du es hast“, sagte es. „wir haben ja alles zerstört.“ Und als es sich traurig zum Gehen anschickte, gab ihm das Mädchen eine von den bunten Blumen mit auf den Weg.

Da kamen in den nächsten Tagen noch mehr, die alle einmal wieder das Singen der Vögel und die Blumenpracht erleben wollten. Jedem schenkte das Mädchen eine Blume. „Nun hast du ja gar keine mehr“, sagte der alte Mann , dem sie die letzte geschenkt hatte. „Sie wachsen doch wieder nach!“,lachte das Mädchen.

Er ging mit schwerfälligen Schritten zur kleinen Tür, drehte sich noch einmal um und fragte:“Warum tust du das?“

Weil ich euch liebhabe!, sagte das Mädchen, das anders war.

Für Claudia W.

 © P. Eitner



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