Der
Schlag traf ihn unvermittelt und heftig. Als er wieder erwachte,
lag er auf der staubigen Straße neben seinem Auto. Auto?
Nein, so konnte man dieses zerbeulte Stück Blech wirklich
nicht mehr nennen, das da unter einem riesigen Baum begraben
lag. Mühsam wand er sich aus den Zweigen, die ihn
festhielten, als wollten sie ihn zwingen, wie sie am Boden zu
bleiben. Doch endlich ihren grünen Spinnenarmen
entronnenen, fragte er sich, wo die Straße geblieben sei,
die hier eben noch durch den Wald nach Hause zu Dorothee und den
Kindern geführt hatte. Überall waren nur Bäume,
Äste und Blätter. Er spürte die Wunde in
seiner Schulter. Sie blutete und wie kleines Rinnsal lief sein
Leben aus ihm heraus, tropfte auf den Boden und netzte die
Wurzeln der Bäume. Ausgerechnet der Bäume, die ihm
fast das Leben gekostet hätten. Wie es Großmutter
immer erzählt hat, schoss es ihm durch den Kopf, die roten
Bäume, die Bäume, deren Blätter sich rot färben
vom Blut Christi. Und obwohl sein Kopf dröhnte und sich ein
Stechen im Rhythmus des Herzschlages hinter seiner Stirn
festkrallte, sah er wie in einem Traum das Haus der Großmutter
vor sich: die kleine Gartenbank mitten in den Blumen und auf ihr
die große, schlanke Frau, die ihm aus der Bibel vorgelesen
und von Jesus erzählt hatte. Der, der Gott folgt, so hatte
sie ihm erklärt, ist wie ein Baum, gepflanzt an den
Wasserbächen, gepflanzt am Strom der Liebe Christi, der bis
in unsere Tage vom Kreuz herabfließt. Das Blut zur
Vergebung für Sünder. Und er hatte sich vorgestellt,
dass alle Bäume in der Nähe dieses Stromes rote
Blätter haben müssten, da ja ihre Wurzeln sich
vollsogen mit dem Blute Christi.
Da, mein Junge, hatte
Großmutter oft gesagt, da gehörst du hin: schlage
deine Wurzeln ins Ufer dieses Stromes, dann wird dir dein Leben
letztendlich gelingen, denn bei Jesus bist du in
Sicherheit.
Wie töricht man als Kind doch ist,
dachte er, so etwas zu glauben! Aber Großmutter war
besondere Frau und er ein phantasiereicher Junge gewesen. Seine
Wunde schmerzte und er unterband das Rinnsal seines Lebens, das
da aus ihm heraustropfte und den Boden des Waldes netzte, indem
er sein Hemd auszog und es mühsam zusammenfaltete, bis es
fast aussah wie ein Geschenk, denn die Streifen des Musters
schmückten es wie eine Schleife. Mit seinem Gürtel
band er es fest auf die Wunde. Ich muss weiter, sagte er
halblaut zu sich, ich muss fort aus dieser grünen Hölle,
und er schlug sich rechts in den Wald hinein, dass die Zweige
über und hinter ihm zusammenschlugen. Es war, als wollten
sie ihn züchtigen, ihn nicht gehen lassen.
Doch er
wusste, was er wollte, er hatte immer gewusst, was er wollte,
und so erkämpfte er sich durch die grünen, strafenden
Arme seinen Weg nach Hause.
Wenn es rote Bäume
gibt, dann muss es doch auch schwarze geben, hatte er sich als
Kind überlegt, denn wenn es einen Strom der Gnade gibt,
gibt es auch einen der Sünde.
Er
hatte die Großmutter danach gefragt. Sicher, hatte sie
geantwortet, solche Bäume, die am Strom der Sünde
eines vertanen Lebens wachsen, haben tote schwarze, leblose
Blätter.
Die Gesellschaft dieser Bäume solle
er meiden, hatte sie fast flehentlich gemahnt.
Er
hastete vorwärts. Hatte er den Rat der Großmutter
befolgt? Die Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Er war doch ein
ganz passabler Mensch Sein Atem keuchte. Er hielt einen
Augenblick inne, um neue Kraft zu schöpfen. Nun ja, das
damals mit Ingrid, der Nachbarsfrau, hätte nicht unbedingt
sein müssen und vielleicht war es nicht fair gewesen, was
er von Dorothee nach dem zweiten Kind verlangt hatte. Sein Atem
beruhigte sich nicht. Und im Geschäft die Sache mit dem
Mitbewerber im Streit um den höheren Posten. Er griff sich
an die Schulter. Das machen doch heute alle so. Jeder will nach
oben, ein wenig mehr verdienen, das Haus, den Urlaub, gut wenn
man da manchmal die härteren Ellenbogen hat. Aber die
Kinder, - das Stechen hinter der Stirn nahm zu,- hatte er je
Zeit....? Nun werde bloß nicht sentimental, dachte er
und sah, dass das Rinnsal seines Lebens sich einen neuen Weg
gesucht hatte und unter dem Verband wie ein dünner Strich
hervorrann, der sein Leben durchkreuzen wollte. Er zog den
Gürtel fester und stolperte weiter und der Wald lichtete
sich, wurde heller und heller, bis er ganz aufhörte und er
sich am Ufer eines riesigen Sees wiederfand.
Und im
goldenen Licht der untergehenden Sonne sah er zwei dicht
nebeneinander liegenden Inseln, die eine bestanden mit
schwarzen, die andere mit roten Bäumen.
Er erschrak
zutiefst, denn er erkannte die Stunde, hörte die Worte der
Großmutter noch im Ohr, stieg in das kleine Boot, das am
Ufer lag und wusste, er musste zu den roten Bäumen, kostete
es, was es wolle.
Er ruderte mit den unendlich kleinen
Rudern um sein Leben, er schwitzte im Sonnenlicht der Wahrheit
und der Schmerz hämmerte unerbittlich an seine Stirn.
Aber
so sehr er sich auch mühte, er änderte nichts an der
Geschwindigkeit und Richtung des Bootes: wie von unsichtbarer
Hand gezogen glitt es hinüber zu den schwarzen Bäumen,
es wurde schneller und schneller, es gab kein Entrinnen mehr, da
vereinte er alle Kraft, die noch in ihm war und ein einziger
Schrei tief aus seinem Herzen drang aus seiner
Kehle: Nein, nein, da will ich nicht hin! Ich muss
in die andere Richtung, ich will zu den roten.....! Die
Stimme versagte ihm. Er hatte wirklich geschrien.
Der
Oberarzt sah die Schwester an und sagte: "Unfall zwei ist
wieder unter uns. Erst reden die immer so ein wirres Zeug nach
der Operation, aber warten Sie nur ein paar Stunden, dann ist er
wieder ganz der Alte!" Lachend verließ er den
Aufwachraum.
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