Lisa verliert Geld

Lisa lag auf dem Sofa in ihrem Zimmer und dachte nach. Die Religionslehrerin hatte heute im Unterricht behauptet, wenn man anderen, die in Not sind, etwas abgibt, dann macht es einen nicht ärmer, sondern reicher, dafür sorgt Gott schon. Alle sollten morgen zwei Euro mitbringen, die sie dann nach Afrika zu den armen Kindern schicken wollten. Und sie sollten nicht die Eltern um Geld bitten, sondern etwas von ihrem eigenen Geld nehmen. Aber das ist doch totaler Quatsch, überlegte Lisa, denn wenn sie jetzt zwei Euro aus der Spardose nehmen würde, wären zwei Euro weniger darin, dann wäre sie ärmer und nicht reicher! Warum reden Lehrer manchmal so einen Unsinn?
Gerade wollte sie aufstehen, um ihre Matheaufgaben zu erledigen, als ihre Mutter zur Tür hereinkam: „Lisa, wolltest du heute nicht das Geschenk für Opa kaufen?“, fragte sie. Ach, das hatte sie fast vergessen, ja, den Tee für ihren Opa! Schnell war die Spardose geöffnet und sie nahm einen fünf Euro Schein heraus. Das muss reichen für die Lehrerin und für Opa, dachte sie, jetzt bin ich sogar um 5 Euro ärmer!

Schnell zog sie sich an, stopfte ihre Handschuhe in die Manteltasche und den Geldschein dazu und lief auf die Straße. „Pass auf der Straße auf, Lisa“, rief ihre Mutter ihr hinterher. Dass Eltern immer denken, man sei noch ein kleines Baby, dachte sie und ging an den Vorgärten der Häuser vorbei, an der großen Linde, bis sie an die Hauptstraße kam. Hier gab es eine Fußgängerampel. Lisa wartete, bis ganz viele Autos kamen, dann drückte sie schnell den Knopf und freute sich, dass alle nur ihretwegen anhalten mussten. Wie eine Königin ging sie über die Straße und hüpfte fröhlich weiter, bis vor das Haus mit dem Schild „Minis Teestube“.
Als sie den Laden betrat, atmete sie tief ein, es roch herrlich nach getrockneten Früchten, Tee, Nüssen und vielem anderen. Sie war schon öfter hier gewesen, wenn Opa seinen Lieblingstee kaufte, und hatte seine Bestellung auswendig gelernt.

Was darf es denn sein, meine Dame?“, fragte der junge Verkäufer und beugte sich über den Ladentisch zu ihr herüber.
„125 Gramm grüner Tee mit Maracujageschmack und Ananasstückchen“, antwortete Lisa und war froh, diese schweren Wörter richtig herausgebracht zu haben. Der Mann nahm eine der vielen großen Dosen vom Regal, öffnete sie und ließ Lisa am Tee riechen. Darauf war sie ein bisschen stolz, denn das machte er bei Opa auch immer, das mit dem Riechen. „Ja, das ist der richtige Tee!“, sagte Lisa und sah zu, wie 125 Gramm in eine Tüte gefüllt, abgewogen und verschlossen wurden.
„Macht 2 Euro 85, meine Dame!“, meinte der Verkäufer und reichte ihr die Tüte über den Ladentisch.

Lisa griff in ihre Manteltasche, aber da war nichts. Sie holte die Handschuhe heraus und wühlte erst rechts, dann links, aber da war wirklich nichts. Oh wie peinlich! „Ich komme gleich wieder, muss Geld holen...“, stotterte sie hilflos und lief aus dem Laden.
Sie suchte den ganzen Weg ab bis nach Hause und ging dann wieder zum Laden zurück, aber so sehr sie sich auch anstrengte, da war nichts zu finden! Kurz vor dem Laden blieb sie stehen. Was sollte sie nur machen? War das die Strafe, dass sie den armen Kindern nichts abgeben wollte? Und wie sollte Opa nur zu seinem Geschenk kommen?

Tränen stiegen ihr in die Augen, sie lief noch ein wenig suchend auf und ab, als eine ältere Frau, die hinter ihr die Straße herabgekommen war, sie fragte, was sie denn suche. Da erzählte ihr Lisa die ganze Geschichte. Vom Erzählen wurde ihr ein wenig besser. „Da ist es ja gut, dass ich hinter dir gegangen bin, meine Kleine“, sagte die Frau, griff in ihre Handtasche, holte ihre Geldbörse heraus und öffnete sie.
Sie suchte ein wenig und zog dann einen 5 Euro Schein heraus mit den Worten: „Wie gut, dass ich deinen Schein gefunden habe. Pass das nächste Mal besser auf!“ Sie schickte sich an, weiterzugehen, als Lisa ihr noch „Vielen Dank!“ nachrief, zum Laden eilte und den Tee, der noch immer neben der Kasse lag, bezahlte.
Dann ging sie nach Hause, froh darüber, das Geld wiederbekommen zu haben.
Dort angekommen zog sie ihren Mantel aus, legte Schal und Mütze auf die Garderobe und zog die Handschuhe aus der Manteltasche.
Da fiel plötzlich ein 5 Euro-Schein auf den Boden. Jetzt begriff Lisa, sie hatte den Schein gar nicht in die Manteltasche, sondern irgendwie in den Handschuh gesteckt, der in der Tasche war. Deswegen hatte sie ihn nicht gefunden. Aber die Frau? Ihr wurde es ganz warm. Hatte die Frau ihr aus Freundlichkeit den Geldschein..?

Lisa lief in ihr Zimmer, steckte den Schein in die Spardose, setzte sich auf ihr Sofa und schämte sich ein wenig. Jetzt war nichts weniger in der Dose und doch hatte sie Opas Tee und die 2 Euro für die Schule morgen.
Sie war nicht ärmer, sondern reicher. Machte Gott das etwa so?

Lisa stand auf, setzte sich an den Schreibtisch und begann, ihre Mathehausaufgaben zu machen. Ab und zu träumte sie aus dem Fenster und meinte, die freundliche alte Frau zu sehen.

Eine Geschichte von ©P.Eitner


Copyright © P. Eitner