Lisa schreibt ab

Lisa saß in ihrem Zimmer und lernte. Aber diesmal wollte das blöde Gedicht einfach nicht in ihren Kopf. Irgendwie war der zu klein:

Des Frühlings schöne Sonne scheint,
macht eure Augen doch nur auf!
Der Winter schleicht sich fort und weint,
vorbei ist …...........“

Jedes Mal kam sie an dieser Stelle nicht weiter. Sie schaute auf ihren Gedichtzettel: „vorbei ist nun des Frostes Lauf“. Was sollte das eigentlich heißen: "des Frostes Lauf"?
Kann der Frost laufen? Warum schreiben Leute so schwere Gedichte und warum müssen Kinder sie lernen? So etwas zu schreiben, ist doch gemein! Gemein auch deshalb, weil sie zur Zeit, solange Frau Ahrens krank ist, Deutsch bei Herrn Strackerjahn hatten und den wollte Lisa nun ganz und gar nicht enttäuschen, weil er stets nett zu ihr war.
So legte sie am Abend ihren Gedichtzettel unter das Kopfkissen, denn sie hoffte, die Wörter würden vielleicht beim Schlafen in ihren Kopf kriechen. Auch am Morgen sagte sie das Gedicht immer wieder auf und steckte den Zettel in ihre Hosentasche, um auf dem Schulweg noch lernen zu können. Endlich kam sie in ihre Klasse.
„Guten Morgen, liebe Kinder, setzt euch!“ Herr Strackerjahn kam fröhlich zur Tür herein. „Sicher habt ihr alle euer Gedicht gelernt. Wir wollen es uns jetzt anhören. Aber weil wir so viele Gedichtvorträge in einer Stunde nicht schaffen, werden einige das Gedicht aufschreiben. Dann kann ich auf diese Weise sehen, ob sie es gelernt haben. Konstantin, Ailin, Vera und Lisa nehmt bitte nur einen Stift mit.“
 Als die Genannten nach vorne kamen, gab er jedem ein leeres Blatt und ging mit ihnen auf den Flur.
Dort wurde jeder von ihnen in einen leeren Raum gesetzt. Lisa saß im Medienraum zwischen all den Erdkunde- und Geschichtskarten. Dort war ein kleiner Stuhl mit einem Tisch. Sie setzte sich hin und begann zu schreiben: „Frühling“ bis „der Winter schleicht sich fort und weint, vorbei ist...“ Das war wirklich nicht zu glauben, immer noch wusste sie an dieser Stelle nicht weiter! Sie dachte nach, drehte nervös an ihrem Füller und dann...... fiel ihr ein, dass sie ja den Gedichtzettel in ihrer Hosentasche hatte. Mit klopfendem Herzen holte sie ihn hervor und schrieb weiter: „vorbei ist nun des Frostes Lauf“. Und dann schrieb sie den Rest und verglich ihn mit dem Zettel, der schnell wieder in der Hosentasche verschwand.

Sie ging zur Klasse zurück, klopfte an die Tür, und nachdem Herr Strackerjahn „Herein!“ gerufen hatte, gab sie ihm ab, was sie geschrieben hatte.
„Das ging ja schnell, Lisa, gut gemacht!“ Sie traute sich nicht, ihn anzuschauen, und ging gleich zu ihrem Platz zurück, wo sie unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschte und froh war, als es endlich zur Pause klingelte.

Dort traf sie ihre Freundin Ecrin, die ihr begeistert vom Shopping Ausflug mit ihrer Mutter erzählte. Aber Lisa hörte gar nicht zu, sie dachte immer daran, dass sie betrogen hatte. Betrügen ist so etwas wie lügen, heißt ja auch so, dachte sie, und warum belüge ich ausgerechnet Herrn Strackerjahn? Das ist ganz und gar nicht fair, auch nicht gegenüber der Klasse. Ich muss irgendwie den abgegebenen Zettel wiederbekommen und wenn Herr Strackerjahn ihn dann nicht findet, muss ich noch mal aufsagen, das wäre das Beste.“
„Du hörst mir ja gar nicht zu, Lisa!“, störte Ecrin ihre Gedanken. „Geht es dir nicht gut?“ - „Doch, doch, alles ok!“, erwiderte Lisa und war froh, dass es klingelte und die Pause vorbei war und sie in den Biounterricht bei Frau Gerlach gehen konnte. Aber auch dort fühlte sie sich nicht wohl und auch nicht bei Herrn Rosenberg im Kunstunterricht. Dann hatte sie Sport bei Herrn Strackerjahn. Sie begegnete ihm schon auf dem Weg zur Sporthalle. „Hey Lisa, gutes Gedicht. Habe es in meiner Freistunde gerade angesehen. Eine Eins. Super!“
Lisa wurde rot und ihr war, als müsste jeder ihr Herz klopfen hören. Nein, hier war etwas falsch. Diese Eins wollte sie nicht. Eine geschummelte Eins ist keine Eins, dachte sie.

Im Sportunterricht passte sie nicht auf und ihre Kameraden schimpften, wenn sie schon wieder den Ball nicht gefangen hatte. Aber sie hatte das Gefühl, ihr Beine würden immer schwerer und sie könne nicht mehr laufen und schon gar nicht springen.
Als die Stunde herum war, gingen alle in die Umkleidekabinen und Lisa wartete, bis nur noch sie und Herr Strackerjahn in der Halle waren. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte Herrn Strackerjahn, ob er etwas Zeit für sie habe, nur einen Augenblick. Er setzte sich zu ihr auf die Bank und Lisa erzählte ihm, was sie getan hatte.
„Das war nicht in Ordnung, Lisa,“ ,sagte er dann, “das hätte ich nicht von dir gedacht. Aber gut, dass du es mir gesagt hast, du bist ein ehrliches Mädchen, dafür habe ich dich immer gehalten und nun hast du es mir bestätigt. Jeder macht mal einen Fehler! Da dir dein Verhalten leid tut, machen wir es so: ich werde morgen der Klasse sagen, dass du das Gedicht doch lieber aufsagen möchtest. Dann werden wir sehen!“ -“Danke, herzlichen Dank!“ , rief Lisa und rannte in die Umkleidekabine, zog sich um und lief mehr als sie ging nach Hause.
Denn ihr waren viele Steine vom Herzen gefallen.
Am nächsten Tag sagte sie das Gedicht auf und diesmal klappte es sogar mit:
Vorbei ist nun des Frostes Lauf!“

Eine Geschichte von ©P.Eitner


Copyright © P. Eitner