„Lisa,
kommst du endlich, wir müssen los“, rief Mama und
Lisa beeilte sich, ihre neue Sommerjacke zuzuknöpfen.
Sonntags gingen sie in die Kirche, nicht immer zu ihrer Freude,
aber Papa meinte, wenn die Woche 168 Stunden hat, kann man doch
eine Stunde davon mit Gott verbringen. Sie hatte schon
hundertmal versucht, Papa davon zu überzeugen, dass das mit
den 168 Stunden Unsinn sei, denn mindestens 56 Stunden würde
man ja schlafen, aber er hatte gelacht und behauptet, auch der
Schlaf gehöre ja uns. „Ich komme“, rief
Lisa und sprang zwei Stufen auf einmal die Treppen hinunter,
rannte aus der Haustür und sprang in den Wagen. Das
Läuten der Kirchenglocken fand Lisa cool, weil es so schön
laut war und man vor der Kirchentür schreien musste, wollte
man jemandem etwas sagen. Und falls Papa gut gelaunt war, schrie
er zurück. Wenn man in der Kirche sprach, hallte es, und
alle redeten sehr leise miteinander, weil sonst jeder hören
konnte, was man sagte und das war peinlich. Einmal hatte Lisa
ihren Regenschirm fallen gelassen und der knallte natürlich
mit der Metallspitze auf den Boden. Da haben sich alle umgedreht
und sie war ganz erschrocken gewesen. Alle... na ja viele waren
das nicht, die an einem gewöhnlichen Sonntag in der Kirche
saßen: einige ältere Frauen aus dem Pflegeheim, ein
paar Konfirmanden, die in der ersten Reihe kicherten und sich
ständig anstießen. Eine Familie mit drei Jungen, die
ein paar Bankreihen vor ihnen saß. Die Jungen drehten sich
manchmal um und schnitten Fratzen. Lisa blieb dann ganz cool und
tat, als würde sie das nicht sehen.
Eine
junge Frau mit ihrem Baby war auch oft da, sie ging immer raus,
wenn das Baby zu schreien anfing. Und dann waren da noch ein
paar andere, aber nie sehr viele. Die Orgel begann zu spielen
und riss Lisa aus ihren Träumen.
Auch
schön laut, dachte sie und begann mit ihren Fingern die
Musik zu dirigieren, natürlich so, dass es niemand sehen
konnte.
Dabei
blieben ihre Blicke an dem großen Kreuz hängen. Ob
Jesus wohl große Schmerzen gehabt hat, als er dort hing?
Für uns hing, hatte ihr der Papa erklärt, aber das
hatte sie nicht verstanden, denn was hatte sie getan, dass Jesus
da hängen musste? Sie fand es in Ordnung, dass er Ostern
auferstanden war und es ihm wieder gut ging. Der Pastor predigte
heute über „Menschenfurcht“. Das verstand Lisa
nicht. Sie fürchtete sich nicht vor Menschen, höchstens
vor den Jungen der achten Klasse, diesen Abzockern!
Aber
dass der Pastor sagte, wir brauchen uns vor anderen Menschen
nicht zu fürchten, weil Gott ja immer bei uns ist, fand
Lisa gut. Das hatte sie schon einige Male erfahren, zum
Beispiel, als sie ihr Geld verloren hatte, und so schaute sie
jetzt zu Jesus und lächelte ihn dankbar an.
Und
wieder begann die Orgel zu spielen, als Lisa ganz zufällig
zu den alten Damen aus dem Pflegeheim hinübersah, die sich
anschickten, das Lied „Lobe den Herren, den mächtigen
König der Ehren“ zu singen.
Was
hat die eine Oma für ein seltsames durchsichtiges Kopftuch
umgebunden, dachte Lisa gerade, als sie sah, dass bei „Looooobe
den Herren...“ etwas im Mund der Frau herunterklappte.
Das ist ja komisch, dachte sie, aber dann fiel ihr ein, dass
sie mal ihre eigene Oma besucht hatte, als die krank war. Da
hatte sie gesehen, dass Omas Zähne im Glas auf dem
Nachtschrank lagen und Oma hatte ihr erklärt, dass sie die
sonst im Mund irgendwie festklebt und solche Zähne „Gebiss“
heißen. Und jetzt sah es Lisa ganz genau. Bei „Psalter
und Harfe wacht aaaauf...“ fielen der Frau die oberen
Zähne herunter und klappten auf die unteren. Lisa musste
lachen. Sie gluckste herum und versuchte das Lachen zu
unterdrücken. Mama sah sie mit gerunzelter Stirn an. Lisa
wollte woanders hingucken, aber es ging nicht, es sah einfach zu
lustig aus, wie bei der alten Frau das Gebiss immer wieder
herunterklappte. Und als das Lied fast zu Ende war, konnte Lisa
sich nicht mehr halten. Sie prustete los und lachte, dass es von
den Kirchenmauern widerhallte. Erschrocken sahen die Eltern
sie an, auch die älteren Damen drehten sich zu ihr um. Aber
als Lisa immer weiter lachte, fingen auch sie an und die Jungen
vor ihr drehten sich zu ihr um und lachten auch mit. Der Pastor
sah etwas verwirrt in seine Gemeinde, aber weil jetzt alle
lachten, begann er erst zögerlich, dann aber immer lauter
mitzulachen. So hatte der Gottesdienst ein fröhliches
Ende und von „Menschenfurcht“ war gar nichts mehr zu
spüren, denn Lachen, so sagt man, steckt an und die ältere
Dame mit dem Kopftuch gab Lisa am Ausgang die Hand und sagte, so
ein fröhliches Lachen habe sie schon lange nicht mehr
erlebt. Sie wusste ja nicht, dass sie selbst der Grund dafür
gewesen war.
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