DAS WESEN DER LIEBE II

Corinne war schon lange nicht mehr bei ihrem Freund, dem Zauberer, gewesen. Doch eine Frage brannte in ihrem Herzen so sehr, dass sie sich aufmachte, den langen, dunklen Wald durchwanderte und vor dem Haus des Einsamen stehen blieb. Er stand im Garten und begoss gerade seine Blumen. Die einen mehr, die anderen weniger, wie eine jede es benötigte. Einige riss er aus, weil sie verblüht waren.

Als er Corinne sah, freute er sich und sagte:"Schön, dass du kommst, Corinne. Du willst mich fragen, was aus der Treue wird, wenn einer der Liebenden sie einseitig aufkündigt."
"Woher kennst du meine Frage?" antwortete Corinne erstaunt.
"Weil ich ein
Zauberer bin", sagte er. Corinne hob erstaunt die Augenbraue und begann:
"Also nehmen wir einmal an, DU wärest so treu, wie du gesagt hast, aber ICH hätte eines Tages kein Gefallen mehr an deiner Freundschaft. Ich käme zu dir und würde dir sagen, dass ich andere Freunde gefunden habe, die mir mehr zu geben haben als du!"
"Das würdest du nicht tun, Corinne." - "Warum?" - "Weil ich dich kenne!" - "Aber es kann doch sein, dass ich mich von meiner Abhängigkeit zu dir befreien will.", meinte Corinne.
"Wozu?" fragte der Zauberer, "Du gerätst dann nur in eine neue
Abhängigkeit zu jemand anderem, zu Theorien, zu Meinungen, zu dir selbst. Wir sind immer von irgendetwas oder irgendwem abhängig."

"Aber wenn ich dich doch, aus welchem Grunde auch immer, nicht mehr liebhaben würde, was wäre dann mit DEINER Treue, mit DEINER Liebe?" Das Mädchen blieb hartnäckig.

"Dann", sagte der Zauberer und sah sie liebevoll an, "würde sich meine „Liebe für immer" in "Trauer für immer" verwandeln. Denn das Wesen der wahren Liebe, der man das Ziel nimmt, ist Trauer. Trauer ist ein Teil der Liebe, eine andere Art vielleicht.“

"Ich mag dich sehr", beeilte Corinne sich zu sagen.
"Ich weiß", erwiderte der Zauberer.

Corinne aber lief lächelnd in die Welt ihrer Abhängigkeiten zurück.


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